Ein Interview, wie Sprache und Verhalten Menschen behindern können und wie eine Kampagne dagegenwirken kann | KSL.NRW Direkt zum Inhalt

Ein Interview, wie Sprache und Verhalten Menschen behindern können und wie eine Kampagne dagegenwirken kann

Fotos von Andreas Tintrup und Wibke Roth vor grünen Kacheln des KSL.Arnsberg

Fensterblick Arnsberg

„Was für andere Barrieren sein können, beginnt natürlich mit dem Blick über den eigenen Tellerrand. Das beginnt damit, überhaupt erstmal dafür sensibel zu machen, was andere Menschen überhaupt behindern kann.“

von Andreas Tintup und Wibke Roth / Interview / KSL hinterfragt

Wibke Roth: Andreas, was würde passieren, wenn dich jemand dir Unbekanntes dich fragen würde: Können Einarmige* eigentlich Fahrrad fahren?

Andreas Tintrup: Dem würde ich YouTube und das Video mit Alan Kempster empfehlen und noch kurz mitteilen, dass ich Münsterländer bin.
*Anm. der Redaktion: Andreas verfügt über einen Arm.

Wibke Roth: Jetzt durfte ich dich in den vergangenen dreieinhalb Jahren der Zusammenarbeit etwas kennenlernen. Das Ding: Du bist Projektleiter des KSL.Arnsberg. Du bist Experte für das politische Thema „Behinderungen“ und – wie wir es hier bei den KSL immer nennen – auch „Experte in eigener Sache“. Das ist per se schon eine Herausforderung, kann ich mir vorstellen. Zum einen, zu wissen, wie der Umgang mit Behinderungen politisch korrekt zu sein hat und wie mühsam der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist; zum anderen, wie du privat als Bruder eines Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten, mit deinen Berufserfahrungen als Sozialarbeiter und  auch als Mensch mit einem Arm zu spüren, was da noch alles passieren muss, damit Menschen einmal in einer Welt leben, die Vielfalt als Stärke begreift**. Dich nervt, wenn dich jemand zu einem Behinderten oder – je nach Wortwahl – zu einem Menschen mit Behinderung macht. Oder noch genauer: dich auf Einen mit nur einem Arm reduziert. Habe ich das aus unseren Vorgesprächen so weit richtig zusammengefasst?
**Anm. der Redaktion: Das ist ein Leitbild der KSL.NRW.

Andreas Tintrup: Genauso ist es Wibke und liegt eigentlich klar auf der Hand (lacht).

Wibke Roth: Wie ist das mit dieser Bezeichnung? Was wäre für dich eine konsequente Bezeichnung?

Andreas Tintrup: Verbunden mit dem durch die UN-BRK deutlichen Perspektivenwechsel, dass Behinderung nicht den Ausgang beim Individuum selbst, sondern in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hat und damit nichts anderes als eine gesellschaftliche beziehungsweise soziale Konstruktion ist, fände ich es konsequent, mich selbst nicht mehr als Behinderter zu benennen, aber mich auch so nicht mehr benennen zu lassen. Vielmehr sind die Behinder*innen zu identifizieren und auch so zu benennen.
Es ist echt schon längst an der Zeit, den Menschen das Mandat zu entziehen, die der Meinung sind, dass sie das Recht haben, Gruppen zu bilden oder über Generationen weiter zu bedienen. Das betrifft zum Beispiel die Wortwahl „Menschen mit Behinderung“ oder „Behinderte“. Allein die Wortwahl findet konsequent mit Zuschreibungen statt, wie irgendwie weniger stark, selbstbestimmt und weniger wert zu sein – natürlich ohne die Menschen, über die sie sprechen, mit einzubeziehen. Dass sie von anderen ausgeschlossen werden, zeigt schon, dass ihre Stimme nicht zählt.  

Wibke Roth: Was ist die Konsequenz?

Andreas Tintrup: Dieses vermeintliche Bessergestellt sein und sich damit gut fühlen ist für mich echt das Allerletzte. Das führt dazu, dass man weiterhin permanent mit einer demütigenden, herabwürdigenden, geringschätzenden und respektlosen Sprache und Haltung konfrontiert wird. Und das führt zu einem gesellschaftlichen Grundrauschen, sich als Mensch mit Behinderung andauernd behaupten zu müssen: Das kostet einfach Kraft, die man besser für andere Dinge nutzen könnte.

Wibke Roth: Welche Menschen sind in dieser Sache deine Vorbilder?

Andreas Tintrup: Die, die diese Kategorien nicht bedienen. Die, die Vielfalt schätzen und dieser respektvoll begegnen.

Wibke Roth: Gibt es Kampagnen, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Initiativen dazu, die du gut findest und warum?

Andreas Tintrup: Im Landesaktionsplan NRW ist eine Maßnahme zur gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinsbildung verankert. Bedeutender Teil dieses Konzeptes ist eine geplante landesweite Kampagne unserer Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben  zur Bewusstseinsbildung. Diese knüpft an die sehr erfolgreiche regionale Kampagne „Bist Du behindernd?“ des KSL.Detmold in Zusammenarbeit mit dem Kreis Lippe an. Die KSL haben das Ziel, die Gesellschaft auf die vielfältigen Barrieren im Alltag von Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen. Die Kampagne aus Lippe stellt positive Beispiele in den Vordergrund, wie es jedem Menschen in der Gesellschaft, niedrigschwellig möglich ist, Barrieren für andere zu reduzieren. Was für andere Barrieren sein können, beginnt natürlich mit dem Blick über den eigenen Tellerrand. Das beginnt damit, überhaupt erstmal dafür sensibel zu machen, was andere Menschen überhaupt behindern kann. Unter dem Namen „Bist du behindernd?“  wollen wir die Kampagne nun eine Ebene höher setzen und ein Kommunikationskonzept entwickeln, welches die verschiedenen Elemente der Inklusionspolitik des Landes Nordrhein-Westfalen miteinander verknüpft. Ich finde diese Kampagne gut, weil der Titel „Bist du behindernd?“ die Akzeptanz anderer, die Gleichberechtigung und die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen im Namen trägt.

Wibke Roth: Die zukünftige Kampagne spielt damit, dass Menschen mit Behinderungen erst durch die gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung, die eben nicht immer offensichtlich sind, zu Behinderten gemacht werden. Der Slogan lautet entsprechend: „Bist du behindernd?“ Öffentlichkeitswirksame Bilder und Videos zeigen gleichzeitig, wie Menschen in NRW Inklusionsbarrieren einfach überwinden können, zum Beispiel mit barrierefreien Arbeitsplätzen. Oft ist Menschen gar nicht offensichtlich, wo Stolperfallen lauern, wo Licht und Lautstärke Menschen noch mehr irritieren können, wo nicht verständliche oder nicht vorhandene Informationen Menschen ausgrenzen. Dazu gibt es immer ein sehr provokantes Motiv, dass das nicht allen Offensichtliche sichtbar macht. Das können nur Bilder transportieren. Gleichzeitig ist das Ziel, Barrieren niedrigschwellig abzubauen und auf inklusive Projekte zu verweisen. Es geht darum, Vielfalt als Stärke zu begreifen. Was ist deine einmalig einarmige Stärke, Andreas?

Andreas Tintrup: Der verbale oder auch situative Humor, der mir innewohnt, der aus der Tatsache, einmalig einarmig zu sein, reichlich schöpfen kann. Quasi ein Geschenk ohne eigenes Zutun.

Wibke Roth: Wo bist du behindernd?

Andreas Tintrup: Insbesondere dann, wenn ich verdränge, dass es Ereignisse im Leben anderer, aber auch im eigenen Leben gibt, die Raum und Zeit brauchen.

Wibke Roth: Danke für die Gespräche, Andreas.

Andreas Tintrup: Hab ich gern gemacht.


Das nervt Andreas Tintrup:

Manchmal sind es Aussagen, Fragen oder die Wahl bestimmter Worte, die Menschen in Zusammenhang mit Behinderungen verwenden, die Andreas Tintrup nerven. Die nachfolgende Auswahl soll zeigen, wo es für ihn hakt und wo er im übertragenen Sinne den Raum verließe, selbst wenn Worte, Fragen oder Aussagen im Freien gesprochen würden. Denn das, was jemand spricht, verrät auch etwas über seine Haltung, was normal ist und was nicht. Manchmal sagen Menschen etwas und verraten damit, dass sie glauben, die Deutungshoheit zu haben; oder anders gesagt: Mit dem, wie sie etwas sagen, schlagen sie anderen vor den Kopf, weil sie es unbewusst tun, weil sie überzeugt sind, dass ihre Sicht stimmt, oder, weil sie nicht erkennen, dass die vermeintlichen Schwächen des einen, eine Stärke des anderen ist und die Gesellschaft insgesamt sogar stärken kann. Aber lesen Sie selbst!

Worte, die Menschen für Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten wählen

  • Menschen mit schlichtem Gemüt
  • Der ist bestimmt ein Rainman.

Aussagen über ihn, Inklusion oder Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten

  • Tatsächlich: Der macht alles mit links!!!
  • Ich habe mir den Arm gebrochen. Jetzt weiß ich wie es dir geht.
  • Toll! Du arbeitest mit Behinderten. Könnte ich nicht.
  • Ach Inklusion! Ja klar: Wo die Behinderten jetzt auch mitmachen können (…)
  • Ach, schau `mal: Die arbeitet mit Behinderten. Bald ist sie selbst eine.
  • Ich würde mich umbringen, mit solch‘ einer Behinderung.

Fragen, die ihn nerven:

  • Haben die im Rollstuhl eigentlich auch Sex?
  • Kinder kosten viel Geld. Was kosten eigentlich Behinderte von Geburt bis zum Erwachsenenalter?


November 2022