
Anspruchsgrundlage und Entwicklung
Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung können verlangen, dass Ihnen Schriftsätze oder andere Dokumente im gerichtlichen Verfahren barrierefrei zugänglich gemacht werden, zum Beispiel in Brailleschrift oder als Audiodatei zur Verfügung gestellt werden.
Dieser Anspruch besteht auch, wenn der Mensch mit Blindheit oder Sehbehinderung anwaltlich vertreten ist, so entschied es das Landgericht München I, Beschluss vom 12.09.2023 – 14 T 9699/23.
Anspruchsgrundlage hierfür ist § 191a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in Verbindung mit § 4 Zugänglichmachungsverordnung (ZMV).
Der Anspruch eines Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung auf Zugänglichmachung von Dokumenten im gerichtlichen Verfahren besteht, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen (§ 4 Abs. 1 ZMV).
„Nach § 191a Abs. 1 Satz 1 GVG in der bis zum 30.6.2014 geltenden Fassung bestand der Anspruch nur, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verfahren erforderlich war. Diese Einschränkung wurde aufgrund von Stellungnahmen der Verbände und Organisationen von blinden und sehbehinderten Menschen bei der Neufassung des § 191a GVG durch Änderungsgesetz vom 10.10.2013 gestrichen. Die bisherige Rechtsprechung des BGH, die den Anspruch einer anwaltlich vertretenen blinden Person mit der Begründung verneint hatte, dass ihr der Streitstoff auch durch ihren Rechtsanwalt vermittelt werden kann, dürfte daher seit der Neufassung von § 191a Abs. 1 GVG zum 1.7.2014 überholt sein.“
(Zitat aus Deinert/Welti/Luik/Brockmann, StichwortKommentar Behindertenrecht, 3. Auflage 2022, Barrierefreie Dokumente, Randnummer 17-19).
Landgericht München
Das Landgericht München I erließ den Beschluss vom 12.09.2023 – 14 T 9699/23 mit folgenden Leitsätzen:
„1. Behinderte müssen gerichtliche Schriftsätze und Dokumente barrierefrei erhalten, also durch solche Kommunikationseinrichtungen und -wege, die für behinderte Menschen in der allgemein zugänglichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
2. Der barrierefreie Zugang kann nicht dadurch ersetzt werden, dass die Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren (sehenden) Rechtsanwalt verwiesen wird (entgegen BVerfG BeckRS 2014, 57736; BGH BeckRS 2013, 03740; BeckRS 2014, 01455).“
Das Landgericht München betont, dass ein barrierefreier Zugang zu den Gerichten eine der zentralen Bedingungen für die Chance auf die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist.
Mit der Änderung des Wortlauts von § 191 a GVG gibt es jetzt keine Grundlage mehr, das Recht auf barrierefreie Dokumente einzuschränken, wenn die blinde oder sehbehinderte Person anwaltlich vertreten ist.
Das Landgericht München führt wie folgt aus:
„So ist insbesondere nachvollziehbar, dass die Beklagte nicht darauf verwiesen werden will, dass ihr Rechtsanwalt ihr die Schriftsätze ja erklären oder vorlesen könne. Ihr muss vielmehr die Möglichkeit gegeben sein, sich mit den entsprechenden Dokumenten selbst – und ggf. auch wiederholt – auseinanderzusetzen. Sehfähige Personen, die dieses überaus legitime Interesse haben, können die gegnerischen Schriftsätze (ggf. auch wiederholt) selbst durchlesen und sich intensiv – sowie zu selbstgewählten Zeiten – mit ihnen befassen. Nicht (ausreichend) sehfähigen Personen muss dagegen eine barrierefreie Form der Dokumente zur Verfügung gestellt werden, damit ihnen die gleichen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem gegnerischen Vorbringen an die Hand gegeben sind. In der Tat gebieten dies auch die Gebote der Gleichbehandlung und des fairen Verfahrens.“
Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte
Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle der UN-Behindertenrechtskonvention, führt aus, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch bei anwaltlicher Vertretung bestehen sollen:
„Allerdings sind die Gerichte bei der Anwendung und Auslegung von verfahrensrechtlichen Vorschriften gehalten, der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass deren Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist. Dies gilt auch bei anwaltlicher Vertretung.“
(https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Information/Information_Zugang_zur_Justiz_fuer_Menschen_mit_Behinderungen.pdf)
Landessozialgericht Bayern
Deswegen ist der aktuelle Beschluss des Landessozialgerichts Bayern (2. Senat), Beschluss vom 16.01.2025 – L 2 U 313/24 B ER aus unserer Sicht nicht nachzuvollziehen, das wie folgt beschlossen hat.
Amtliche Leitsätze:
„1. Auch nach der Neufassung des § 191a Abs. GVG zum 01.07.2014 ist bei Vertretung durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten ein Anspruch des sehbehinderten Beteiligten auf eine barrierefreie Zugänglichmachung nicht pauschal und voraussetzungslos gegeben.
2. Für den Zugang zu den Prozessunterlagen darf ein sehbehinderter Beteiligter jedenfalls dann auf eine Vermittlung durch seinen Rechtsanwalt verwiesen werden, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Vermittlung durch den Bevollmächtigten hinter einer unmittelbaren Zugänglichmachung zurückbleibt.“
Anwendung der bisherigen Rechtsprechung trotz Gesetzesänderung
Hier wendet das Landessozialgericht die aufgrund der Gesetzesänderung veraltete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs weiterhin an, obwohl aus dem Gesetzesentwurf zur Gesetzesänderung hervorgeht, dass der Gesetzgeber in § 191 a GVG die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen wollte und entsprechend der Gesetzeswortlaut geändert wurde. In dem Gesetzesentwurf wird der Maßstab für Barrierefreiheit nach § 4 Behindertengleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen herangezogen, wonach Informationen grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sein sollen (Drucksache 17/12634 des Deutschen Bundestages vom 06. 03. 2013, Seite 40, URL: https://dserver.bundestag.de/btd/17/126/1712634.pdf, abgerufen am 19.05.2025).
Artikel 4, 9 und 13 UN-Behindertenrechtskonvention verlangen unter anderem vom Gesetzgeber, einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Das war dem Gesetzgeber bei dieser Gesetzesänderung bewusst.
Der Beschluss vom 16. Januar 2025 – Az. L 2 U 313/24 B ER – vermag mit seiner Argumentation nicht zu überzeugen, soweit er das Recht auf barrierefreie Dokumente bei anwaltlicher Vertretung weiterhin einschränkt.
„Aus der Sache selbst“
Zwar wird in der Entscheidung anerkannt, dass der Wortlaut des § 191a GVG geändert und die frühere Einschränkung, wonach barrierefreie Dokumente zur Wahrnehmung eigener Rechte erforderlich sein mussten, entfallen ist. Dennoch wird postuliert, das Recht auf barrierefreie Dokumente bestehe nicht uneingeschränkt, dies ergebe sich "aus der Sache selbst", auch wenn eine solche Beschränkung dem Gesetzeswortlaut nicht mehr zu entnehmen sei.
Diese Argumentation begegnet erheblichen Bedenken. Sie lässt eine Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften im Einklang mit den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vermissen. Die pauschale Berufung auf die Sache selbst, aus der sich eine Einschränkung ergeben solle, die im Gesetzestext keine Stütze mehr findet, erscheint nicht tragfähig. Der Sinn und Zweck des § 191a GVG besteht gerade darin, Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen zu gewährleisten. Eine vom Gesetzgeber ungewollte Gesetzeslücke wird nicht gesehen, die das Gericht auf diese Weise auszufüllen hätte, da der Gesetzgeber bewusst die Einschränkung der „Erforderlichkeit“ aufgrund von Stellungnahmen der Verbände und Organisationen von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung gestrichen hatte.
Auch bei anwaltlicher Vertretung ist es Menschen ohne Behinderungen unbenommen, Schriftsätze und gerichtliche Dokumente selbst zur Kenntnis zu nehmen. Die kritisierte Sichtweise berücksichtigt nicht ausreichend das Postulat des mündigen Bürgers, der auch bei Beauftragung eines Rechtsanwalts ein vitales Interesse daran hat, die Verfahrensunterlagen eigenständig zu erfassen, um diese fundiert mit seinem Rechtsbeistand erörtern zu können.
Die Annahme, ein Rechtsanwalt beziehungsweise eine Rechtsanwältin habe die zeitlichen und personellen Kapazitäten, seinem Mandanten/seiner Mandantin sämtliche Schriftsätze und Gerichtsentscheidungen vollumfänglich vorzulesen, erscheint zudem praxisfern. Die anwaltliche Tätigkeit umfasst primär die Rechtsberatung und –vertretung sowie die Zusendung von Schriftsätzen und Gerichtsdokumenten und nicht die Übernahme von Assistenzleistungen im Sinne des SGB IX, welche die individuelle Zugänglichmachung von Dokumenten für den Mandanten sicherstellen. Zudem könnte der Anwalt/die Anwältin die Vergütung aufgrund umfangreicher Tätigkeit erhöhen, während dem Mandanten/der Mandantin keine Kosten entstehen, wenn das Gericht die barrierefreien Dokumente zur Verfügung stellt.
In sich widersprechende Gegenüberstellung
Bedenklich erscheint ferner die Argumentation des Landessozialgerichts Bayern, die Bereitstellung barrierefreier Dokumente durch das Gericht würde das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verzögern, während gleichzeitig suggeriert wird, für den beauftragten Rechtsanwalt sei die alternative Vermittlung des Inhalts aufgrund der Überschaubarkeit der Schriftsätze kein nennenswerter Aufwand. Diese Gegenüberstellung lässt eine inkonsistente Bewertung des anfallenden Aufwands erkennen, je nachdem, welcher Akteur diesen zu tragen hätte.
In die Lage versetzt, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen
Das Landessozialgericht Bayern argumentiert weiter mit den den Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 ZMV:
§ 4 Umfang des Anspruchs
(1) Der Anspruch auf Zugänglichmachung besteht, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen.
Das Landessozialgericht Bayern argumentiert, dass Verfahrensbeteiligten mit Blindheit oder Sehbehinderung, die anwaltlich vertreten sind, keine barrierefreien Dokumente zur Verfügung gestellt werden müssten, da der Anwalt/die Anwältin ihre Rechte im Verfahren wahrnehme.
Demgegenüber ist festzuhalten: Wenn Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung ohne barrierefreie Dokumente die Wahrnehmung von Schriftsätzen nicht möglich ist und ihnen diese auf Antrag zur Verfügung gestellt werden, wird ihr Zugang zur Justiz ersichtlich erleichtert. Sie werden dadurch in die Lage versetzt, ihre eigenen Rechte im Prozess aktiv wahrzunehmen. Auch bei anwaltlicher Vertretung üben sie weiterhin eigene Rechte aus, indem sie beispielsweise entscheiden, vor Gericht auszusagen oder Anträge stellen beziehungsweise zurücknehmen zu lassen.
Fazit:
Die Entscheidung des Landgerichts München I vom 12.09.2023 (Az. 14 T 9699/23) erscheint in der Sache überzeugender. Das Gericht stützt seine Argumentation auf den Wortlaut sowie den Sinn und Zweck des § 191a GVG und die Maßstäbe der Barrierefreiheit gemäß § 4 Behindertengleichstellungsgesetz. Dabei wendet es die einschlägigen Vorschriften im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention an, die in der Bundesrepublik Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes innehat. Im Gegensatz dazu entsteht bei der Lektüre der Entscheidung des Landessozialgerichts Bayern der Eindruck einer defensiven Haltung gegenüber der Bereitstellung barrierefreier Dokumente – und das ohne tragfähige Begründung.
Sollten Sie als blinder oder sehbehinderter Verfahrensbeteiligter, auch bei anwaltlicher Vertretung, einen Antrag auf barrierefreie Dokumente bei Gericht stellen, empfiehlt es sich, die genannte Entscheidung des Landgerichts München argumentativ heranzuziehen.
Natalie Ziemann, KSL-MSi, natalie.ziemann@ksl-msi-nrw.de