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„Irren zu dürfen ist menschlich und Menschenrecht. Dieses Recht muss gestärkt werden!“
von Ellen Romberg-Hoffmann / Kommentar / KSL hinterfragt
Schon als Jugendliche konnte ich nicht verstehen, wenn jemand einen anderen Menschen ungerecht behandelt hat oder, wenn jemandem Informationen vorenthalten wurden. Es macht mich auch heute noch wütend und fassungslos, wenn solche Dinge passieren. Doch leider erfahre ich als Sozialarbeiterin auch noch kurz vor meinem Renteneintritt Dinge, da verstehe ich die Welt nicht mehr. Nicht nur, weil sie ungerecht sind, sondern entweder, weil sie nicht rechtens sind, oder einem Menschenbild entsprechen, das meiner Weltauffassung entgegensteht. Doch am Ende meines Blogbeitrags erfahren Sie auch, was es bringt, Rechte zu stärken und von seinem Recht Gebrauch zu machen. So lässt sich spürbar etwas auf der Welt verändern.
Beispiel 1 zur Selbstbestimmung beim Wohnen: Ein Ehepaar mit Behinderungen erzählt überzeugt, dass sie in eine Heimgruppe gezogen seien, weil es für das Leben in einer Mietwohnung nachts – angeblich –keine Assistenz gebe. Da die Zwei des Nachts aber Assistenz benötigen, leben sie weiterhin in der Heimgruppe, obwohl sie als Paar gerne in ihrer eigenen Wohnung leben möchten. In ihrer jetzigen Wohnform leben sie eigentlich nur, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Die Falsch-Informationen haben sie von Menschen in ihrem Umfeld erhalten, denen sie vertrauten. Und dies stellt einen Machtmissbrauch dar. Auch ist mir zu Ohren gekommen, dass Bewohner*innen in einer anderen besonderen Wohnform nachts Besuch verwehrt wird. Das ist schlicht nicht rechtens.
Beispiel 2 zur Haltung von Lehrenden: Manch‘ Lehrer*in aus Sonderschulen, die oder der mir bei Workshops begegnet ist, geht wie selbstverständlich davon aus, dass es für Schüler*innen nach der Sonderschule in eine Sonderarbeitswelt geht. In einem konkreten Fall dachte die Lehrerin, dass ihre ehemalige behinderte Schülerin in einer WfbM (Anm. der Redaktion: Abkürzung für Werkstatt für Menschen mit Behinderungen) arbeitet. Dass diese aber als Dozentin an der Uni arbeitet, hat nicht in ihr Weltbild gepasst. Sie konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass eine Behinderte außerhalb der doch auf sie zugeschnittenen Sonderwelt arbeitet. Sie war sprachlos und schaute verwundert, als sie von der Lebensrealität ihrer ehemaligen Schülerin erfuhr.
Beispiel 3 zur Angst, das eigene Recht einzufordern: In meiner beruflichen Laufbahn sind mir sogar Kolleg*innen begegnet, die als Menschen mit Behinderungen darauf verzichtet haben, ihr Recht einzufordern, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben und/oder ihnen die Kraft fehlt – auch obwohl sie selbst als erfahrene Berater*innen tätig sind.
Diese Beispiele zeigen deutlich die Abhängigkeit behinderter Menschen auf und es wird deutlich, warum sich hier endlich und schnell etwas ändern muss.
Viele behinderte Menschen wachsen in einer behütenden Umgebung auf. Andere sorgen für sie. Andere versorgen sie. Es wird für sie entschieden, was sie brauchen, welche Therapie für sie gut ist – zunächst als Kind, dann als Jugendliche*r dann als Erwachsene*r. Viele Menschen mit Behinderungen benötigen Unterstützung bei der Körperpflege, so dass es für sie „normal“ ist, wenn andere – durchaus wechselnde – Menschen sie auch im Intimbereich anfassen. Oft können sie noch nicht einmal darüber bestimmen, wer sie pflegt – auch das höre ich von Betroffenen. Und dann ist es sehr schwer, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, Grenzen zu setzen, sich zu streiten und Rechte einzufordern.
Für betreuende Personen ist es sicherlich nicht einfach, Menschen mit Behinderung angemessen zu fördern, ihre Ressourcen zu sehen und wahrzunehmen. Sie haben dafür zu sorgen, dass es den behinderten Menschen gut geht und da ist es schwer, zuzulassen, dass die oder der „Schutzbefohlene“ andere Entscheidungen trifft, als man selbst für richtig hält. Doch: Auch behinderte Menschen müssen Entscheidungen treffen können, die sich im Nachhinein als Irrtum erweisen, denn auch darüber lernen sie, selbstständig und erwachsen zu werden. Oder anders: Irren zu dürfen ist menschlich und Menschenrecht. Dieses Recht muss gestärkt werden!
Beide Personengruppen benötigen Unterstützung. Die behinderten Menschen brauchen Workshops, Seminare und gute Berater*innen – auch dringend Peer-Berater*innen -, die sie über ihre Rechte informieren; die sie stärken, und mit ihnen an ihrem Selbstverständnis als Mensch mit Behinderung arbeiten. Das Wichtigste ist zu wissen: „Wie ich bin, bin ich gut!“
Die betreuenden Personen indes brauchen einen Rahmen, in dem sie ihre Unterstützerrolle immer wieder konstruktiv-kritisch hinterfragen und neue Sichtweisen entwickeln können.
Wie wichtig es ist, die eigenen Rechte einzufordern, wird in der Entscheidung des Bundesgerichtshof zur Triage deutlich. Hier haben Menschen mit Behinderungen auf Klärung bestanden und ihr Recht eingeklagt. Und sie haben Recht bekommen. Das müssen sich viele weitere Menschen mit Behinderung trauen, konsequent für ihre Rechte einzustehen. Das habe ich in den vergangenen sieben Jahren beim KSL getan und werde es auch nach meiner Zeit bei der KSL tun. Und meine Kolleg*innen im KSL Köln werden auch zukünftig Ihre Rechte weiter stärken.
Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben
Pohlmanstraße 13
50735 Köln
Telefon: 0221 - 277 17 03
oder 0221 - 32 22 90
Telefax: 0221 - 277 16 84
E-Mail: info@ksl-koeln.de
Anlass für diesen Blog ist die Erkenntnis,
Es gibt Situationen, in denen wird schnell deutlich, dass die Kommunikation gerade diskriminierend war. Vor langer Zeit habe ich mal eine Frau mit Kopftuch in betont Leichter Sprache angesprochen, um sie etwas zu fragen. Die Frau antwortet in akzentfreiem Deutsch. Daraus habe ich gelernt, meine Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
Vor einigen Jahren beschrieben schwarze Menschen in Deutschland alltägliche Situationen, die sie selbst als ausgrenzend und diskriminierend erlebten. Fragen nach der „eigentlichen“ Herkunft, Zuschreibungen zu ihrer vermeintlichen Kultur und vieles mehr gehört dazu. An dieser Stelle fühlte ich mich ertappt. Ich finde Menschen spannend, die es schaffen aus einem anderen Land auszuwandern (freiwillig oder unfreiwillig) und hier bei uns Fuß zu fassen. Den Mut dazu hätte ich nicht. Schon oft habe ich jemanden gefragt, woher er oder sie kommt, nur weil ich neugierig war, ohne besonderen Anlass. Das dies auf die Person diskriminierend wirkt, weil ich sie als nicht voll dazugehörig identifiziert habe, kam mir gar nicht in den Sinn.
Dabei hätte ich es wissen können!
Als Mensch mit Behinderung kenne ich neugierige Fragen, die mir völlig unbekannten Personen stellen. Etwa danach, ob ich schon lange und warum ich im Rollstuhl sitze oder wie ich dies und jenes im Alltag meistere. Es gibt auch gutgemeinte Zuschreibung, wie großartig ich mein Leben meistere und, dass die sprechende Person nicht wisse, ob sie das in meiner Situation könne. Diese Fragen und Kommentare von Fremden erinnern mich daran, dass ich offensichtlich anders bin und nicht ganz dazugehöre. Ohne diese Kommentare könnte ich es glatt vergessen. Andere alltägliche Dinge sind wichtiger. Dabei finde ich diese kurzen Begegnungen ungemein bereichernd, wenn wir über Themen plaudern, die uns verbinden: etwa das Wetter oder den verspäteten Bus, ein neues Restaurant oder die Baustellen, die überall aus dem Boden sprießen und nie fertig zu werden scheinen.
Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen* machen mit Sicherheit ähnliche Erfahrungen, wie die oben beschriebenen.
Angehörige der meisten benachteiligten Gruppen möchten als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft verstanden werden und verstehen sich selbst auch so. Einfach dazugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Und das ist gut so, weil es eine Gesellschaft stark macht. Sie wehren sich gegen Ausgrenzung und kennen ihre Rechte. Leider ist es noch allzu oft so, dass Recht haben und Recht bekommen oder gerecht behandelt werden, nicht Hand in Hand gehen.
Selbst von Diskriminierung betroffen zu sein, schützt offensichtlich nicht davor, in die Neugierfalle zu tappen, wenn es um Menschen in anderen Lebenssituationen als der eigenen geht. Auch Menschen, die selbst von Diskriminierung betroffen sind, diskriminieren Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen. Diese Erkenntnis hat mich, wie eingangs erwähnt, überrascht und irritiert.
Warum gelingt es uns oft nicht, Menschen unhinterfragt, das sein zu lassen, was sie sind? Menschen, die jetzt hier mit uns zusammen in dieser Situation sind. Warum quält uns die Neugier zu erfahren, woher jemand „eigentlich“ kommt oder warum jemand im Rollstuhl sitzt. Oder warum er*sie sich im falschen Körper fühlt. Was wir nicht kennen, verunsichert uns. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, Situationen zu kontrollieren und „Bescheid“ zu wissen.
Ein anderes Grundbedürfnis ist es, dass die eigene Privatsphäre gewahrt bleibt. Es liegt in der Entscheidung des einzelnen Menschen, welche Informationen er oder sie preisgibt oder eben auch nicht.
Alltagsdiskriminierung geht uns alle an und wir alle können etwas dagegen tun. Diskriminierungen passieren auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Haltungen und Handlungen werden von klein auf gelernt und unreflektiert übernommen. Sie müssen gemeinsam mit von Diskriminierung betroffenen Menschen entlarvt werden.
In der Konsequenz heißt das: Tappen wir insbesondere im Smalltalk nicht in die Neugierfalle über offensichtlich unveränderliche Merkmale, wenn es keinen sachlichen Grund gibt.
Wenn wir uns selbst diskriminiert fühlen, können wir im Sinne der Selbstsorge indiskrete Fragen anderer hinterfragen und entscheiden, ob wir sie beantworten oder auch nicht. Die Herausforderung liegt darin, eine Form der Kommunikation* (und des Miteinanders) zu finden, mit der wir uns alle wohlfühlen. Darüber müssen wir miteinander ins Gespräch kommen. Dieser Prozess braucht Mut, Nachsicht mit uns selbst und anderen, und ein offenes Miteinander. Damit stärken wir uns gegenseitig. Natürlich ist mit der Vermeidung von Alltagsdiskriminierung noch nicht alles gut. Durch einen bewussten Umgang miteinander können wir jedoch dazu beitragen, dass sich Werte und Einstellungen in unserer Gesellschaft verändern und sich alle zugehörig fühlen.
*Den Begriff „Menschen mit unveränderlichen Merkmalen“ habe ich häufig im Internet gefunden. Ich finde ihn etwas hölzern, gleichzeitig aber offen genug, dass sich alle Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, darin wiederfinden.
Für weitere Informationen: Das 4-Ohren-Modell: Übrigens beinhaltet das sogenannte 4-Ohren-Modell des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun eine sehr anschauliche Darstellung der verschiedenen Aspekte einer Nachricht auf Sender*innen- und Empfänger*innen-Seite und kann helfen, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen.
Hinter dem Link, auf den Ellen Romberg-Hoffmann im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur Triage verweist, steckt ein PDF des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Die dort angesiedelte Monitoring-Stelle UN-Behinderenrechtskonvention veröffentlicht dort ein Interview mit Britta Schlegel.
Die Leiterin der Monitoring-Stelle erläutert darin, warum der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Triage für das kommende Gesetzgebungsverfahren so bedeutsam ist. Unter anderem sagt sie: „Im Gesetzgebungsverfahren zur Triage sind Menschen mit Behinderungen von Anfang an zu beteiligen.“
Das weiterführende Interview finden Sie in dem PDF.
Februar 2022