
Aktuelles
Auf unserer Startseite finden Sie die neusten Nachrichten, eine Zusammenfassung der wichtigsten Themen und eine informative NRW-Karte, die Sie zu Ihrem KSL führt.
„Für Menschen mit Behinderung, die im Bereich Behindertenhilfe oder Behindertenpolitik tätig sind, ist es selbstverständlich, offensiv mit der eigenen Behinderung umzugehen und sie als Ressource zu nutzen. Daher ist mir die Aussage eines Bekannten zunächst sauer aufgestoßen. ‚Ich fühle mich gar nicht als Behinderter‘, empfand ich im ersten Moment als Verrat an ‚unserer‘ Sache. (…)“
von Christoph Tacken / Kurz-Essay / KSL hinterfragt
Stolz im Zusammenhang mit Behinderung ist ein Thema, das mich schon seit Jahren fasziniert. Immer wieder ist es mir in unterschiedlichen Situationen begegnet, sei es im privaten oder im Kontext der KSL-Arbeit. Oft waren es nur kleine Ereignisse oder Begebenheiten, Fragmente von Gesprächen, das Auftreten von Persönlichkeiten oder kurze Abhandlungen in Sachbüchern zum Thema Behinderung oder Disability Studies. Ende 2021 ergab sich dann die Möglichkeit all die losen Gedankenschnipsel, Hypothesen und offenen Fragen für eine Veranstaltung zu bündeln. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Stolz & Vorurteil – Wertigkeit und Behinderung“ organisierte das KSL Köln die Veranstaltung „Stolze Krüppel? – Identifikation und Behinderung“. Gemeinsam mit Michaela Kusal (Leiterin Beratungszentrum zur Inklusion Behinderter, Ruhruniversität Bochum), Mesut Can (KSL Detmold) und Günter Seeck (MAD PRIDE Parade Köln) wurde das Thema vielseitig beleuchtet und diskutiert. Gleichzeit offenbarte die Veranstaltung aber auch die Vielschichtigkeit und Individualität eines Themas, dessen Komplexität eine umsichtige Herangehensweise erfordert. Auf einige spannende Aspekte will ich etwas näher eingehen.
„Stolz ist das Gefühl einer großen Zufriedenheit mit sich selbst oder anderen, einer Hochachtung seiner selbst – sei es der eigenen Person, sei es in ihrem Zusammenhang mit einem hoch geachteten bzw. verehrten ,Ganzen‘. Der Stolz ist die Freude, die der Gewissheit entspringt, etwas Besonderes, Anerkennenswertes oder Zukunftsträchtiges geleistet zu haben. (...)“
(Quelle: Wikipedia)
Was braucht ein Mensch mit Behinderung, um sein Leben stolz führen zu können? Wohl den oben erwähnten Zustand von Hochachtung sich selbst gegenüber, plus eine Prise Selbstvertrauen und eine Portion Chancengleichheit. Da die Gesellschaft momentan generell nur selten in der Lage ist, dies zu fördern, muss diese Entwicklung gegen alle Widerstände aus den Betroffenen selbst heraus entspringen. Zum einen bedarf es einer guten Beratungslandschaft und individueller Unterstützung wie zum Beispiel Hilfsmittel, um Wahlmöglichkeiten zu haben und seine persönlichen Fähigkeiten ausschöpfen zu können. Zum anderen ist die Beschäftigung mit der eigenen Behinderung und der Situation als behinderter Mensch in Familie, Gesellschaft, etc. essenziell. Hier ist das Peer Counseling bzw. der Peer Support von unschätzbarem Wert.
Der Austausch mit Peers, die Situationen und Gefühle nachvollziehen, Lösungswegen aufzeigen und vielleicht auch als Vorbild oder Orientierungspunkt dienen können, sind oft wichtige Begleiter in der persönlichen Entwicklung hin zu einem (möglichst) selbstbestimmten und erfüllten Leben. So kann dem noch vorherrschenden negativen Bild von Behinderung etwas entgegengesetzt werden. Ein Bild, das von einer defizitären Sicht auf Behinderung geprägt ist, in dem Behinderung mit Leid, Verlust und Abhängigkeit assoziiert wird. Wenn ein Mensch (teilweise sein Leben lang) mit diesem Bild konfrontiert wird, wenn er ständig hört, was er nicht kann und dass er vorsichtig sein muss, dann wirkt sich das, wenn vielleicht auch nur unterbewusst, auf das eigene Zutrauen von Menschen mit Behinderung aus. Dieses Zutrauen ist aber so wichtig, um außerhalb von Sonderwelten und ohne Bevormundung persönliche Erfolge zu feiern. Sich seiner selbst bewusst und voller Zutrauen in die eigenen Stärken in der Gesellschaft zu agieren. Und zwar als wertgeschätzter Teil dieser, nicht als „Sorgenkind“, das betreut und bevormundet wird. Dann kann auch der Stolz entstehen, der durch gesellschaftliche Anerkennung ohne den Zusatz „trotz Behinderung“ genährt wird.
Nur ein stolzer Krüppel kann auch ein stolzierender Krüppel werden. Was ich damit meine ist, dass nur, wenn man seinen Weg gefunden hat mit der eigenen Behinderung umzugehen (und mit allem, was diese neben den unmittelbaren Einschränkungen noch mit sich bringt), man auch öffentlich selbstbewusst und stark auftreten kann. Als gutes Beispiel kann hier meine eigene Erfahrung mit der Kölner MAD PRIDE Parade herhalten. Die MAD PRIDE ist eine Demonstration, die das Thema Behinderung als Parade auf die Straße bringt. Ohne die übliche Schwere, mit Musik und Tanz, laut und schrill, mit Farben und Lebensfreude. Bei meiner ersten Teilnahme habe mich dort unwohl und irgendwie fehl am Platz gefühlt. Im darauffolgenden Jahr habe ich geschwänzt. Doch im Zuge meiner persönlichen Auseinandersetzung mit meiner Behinderung und der damit verbundenen Stärkung meines Selbstwertgefühls als behinderter Mensch, habe ich mich der MAD PRIDE wieder zugewandt. Hier zeigen Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen der Gesellschaft ihre Lebensfreude und ihre Kraft. Das bewundere ich sehr. Hier wird ein gemeinsamer, verbindender Stolz sichtbar, sei es vielleicht auch nur für einen Tag.
Auf der MAD PRIDE Parade funktioniert Behinderung als Identifikationsfaktor. Oder ist es eher das Event an sich? Vielleicht ja auch beides in Kombination. Die Kategorie „Behinderung“ würfelt so viele unterschiedliche Menschen zusammen. Der gemeinsame Identifaktions-Nenner ist dann oft das Unrecht, die Diskriminierung und der Kampf dagegen. Braucht es einen positiveren Nenner, der uns zusammenbringt? Was wäre dafür geeignet? Veranstaltungen, Musik, Literatur – eine Art „Behindertenkultur“? Oder eine Art Erinnerungskultur, die Geschichte von Behinderung oder der Behindertenbewegung mit entsprechenden Orten? Wäre es so möglich eine andere Art von Identifikation und Zusammenhalt zu schaffen? Einen Stolz dort dazuzugehören – Crip Pride? Oder entfernt uns das eher von der inklusiven Gesellschaft und befeuert eine Wir-und-die-Mentalität? Was meinen Sie?
Für Menschen mit Behinderung, die im Bereich Behindertenhilfe oder Behindertenpolitik tätig sind, ist es selbstverständlich, offensiv mit der eigenen Behinderung umzugehen und sie als Ressource zu nutzen. Daher ist mir die Aussage eines Bekannten zunächst sauer aufgestoßen. „Ich fühle mich gar nicht als Behinderter“, empfand ich im ersten Moment als Verrat an „unserer“ Sache. Wir müssen doch laut, stark und kämpferisch sein. Botschafter sein. Zusammenhalt zeigen. Uns gegen Ungerechtigkeiten auflehnen. „Aber du bist behindert!“, hätte ich am liebsten erwidert. Zum Glück habe ich es nicht getan, denn beinhaltet diese Aussage nicht eigentlich den Zustand, den wir für unsere Gesellschaft erreichen wollen? Die Behinderung als Teil der Persönlichkeit und nicht als dominantes Merkmal. Sich nicht als Sonderling fühlen, einfach nur sein mit all den anderen. Im Nachhinein dachte ich zuerst, die beiden Perspektiven stellen ein Dilemma dar. Aber mittlerweile freue ich mich einfach für meinen Bekannten und sehe ein Beispiel, als kleinen Hoffnungsschimmer im täglichen Kampf für Inklusion.
Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben
Pohlmanstraße 13
50735 Köln
Telefon: 0221 - 277 17 03
oder 0221 - 32 22 90
Telefax: 0221 - 277 16 84
E-Mail: info@ksl-koeln.de
Anlass für diesen Blog ist die Erkenntnis,
Es gibt Situationen, in denen wird schnell deutlich, dass die Kommunikation gerade diskriminierend war. Vor langer Zeit habe ich mal eine Frau mit Kopftuch in betont Leichter Sprache angesprochen, um sie etwas zu fragen. Die Frau antwortet in akzentfreiem Deutsch. Daraus habe ich gelernt, meine Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
Vor einigen Jahren beschrieben schwarze Menschen in Deutschland alltägliche Situationen, die sie selbst als ausgrenzend und diskriminierend erlebten. Fragen nach der „eigentlichen“ Herkunft, Zuschreibungen zu ihrer vermeintlichen Kultur und vieles mehr gehört dazu. An dieser Stelle fühlte ich mich ertappt. Ich finde Menschen spannend, die es schaffen aus einem anderen Land auszuwandern (freiwillig oder unfreiwillig) und hier bei uns Fuß zu fassen. Den Mut dazu hätte ich nicht. Schon oft habe ich jemanden gefragt, woher er oder sie kommt, nur weil ich neugierig war, ohne besonderen Anlass. Das dies auf die Person diskriminierend wirkt, weil ich sie als nicht voll dazugehörig identifiziert habe, kam mir gar nicht in den Sinn.
Dabei hätte ich es wissen können!
Als Mensch mit Behinderung kenne ich neugierige Fragen, die mir völlig unbekannten Personen stellen. Etwa danach, ob ich schon lange und warum ich im Rollstuhl sitze oder wie ich dies und jenes im Alltag meistere. Es gibt auch gutgemeinte Zuschreibung, wie großartig ich mein Leben meistere und, dass die sprechende Person nicht wisse, ob sie das in meiner Situation könne. Diese Fragen und Kommentare von Fremden erinnern mich daran, dass ich offensichtlich anders bin und nicht ganz dazugehöre. Ohne diese Kommentare könnte ich es glatt vergessen. Andere alltägliche Dinge sind wichtiger. Dabei finde ich diese kurzen Begegnungen ungemein bereichernd, wenn wir über Themen plaudern, die uns verbinden: etwa das Wetter oder den verspäteten Bus, ein neues Restaurant oder die Baustellen, die überall aus dem Boden sprießen und nie fertig zu werden scheinen.
Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen* machen mit Sicherheit ähnliche Erfahrungen, wie die oben beschriebenen.
Angehörige der meisten benachteiligten Gruppen möchten als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft verstanden werden und verstehen sich selbst auch so. Einfach dazugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Und das ist gut so, weil es eine Gesellschaft stark macht. Sie wehren sich gegen Ausgrenzung und kennen ihre Rechte. Leider ist es noch allzu oft so, dass Recht haben und Recht bekommen oder gerecht behandelt werden, nicht Hand in Hand gehen.
Selbst von Diskriminierung betroffen zu sein, schützt offensichtlich nicht davor, in die Neugierfalle zu tappen, wenn es um Menschen in anderen Lebenssituationen als der eigenen geht. Auch Menschen, die selbst von Diskriminierung betroffen sind, diskriminieren Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen. Diese Erkenntnis hat mich, wie eingangs erwähnt, überrascht und irritiert.
Warum gelingt es uns oft nicht, Menschen unhinterfragt, das sein zu lassen, was sie sind? Menschen, die jetzt hier mit uns zusammen in dieser Situation sind. Warum quält uns die Neugier zu erfahren, woher jemand „eigentlich“ kommt oder warum jemand im Rollstuhl sitzt. Oder warum er*sie sich im falschen Körper fühlt. Was wir nicht kennen, verunsichert uns. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, Situationen zu kontrollieren und „Bescheid“ zu wissen.
Ein anderes Grundbedürfnis ist es, dass die eigene Privatsphäre gewahrt bleibt. Es liegt in der Entscheidung des einzelnen Menschen, welche Informationen er oder sie preisgibt oder eben auch nicht.
Alltagsdiskriminierung geht uns alle an und wir alle können etwas dagegen tun. Diskriminierungen passieren auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Haltungen und Handlungen werden von klein auf gelernt und unreflektiert übernommen. Sie müssen gemeinsam mit von Diskriminierung betroffenen Menschen entlarvt werden.
In der Konsequenz heißt das: Tappen wir insbesondere im Smalltalk nicht in die Neugierfalle über offensichtlich unveränderliche Merkmale, wenn es keinen sachlichen Grund gibt.
Wenn wir uns selbst diskriminiert fühlen, können wir im Sinne der Selbstsorge indiskrete Fragen anderer hinterfragen und entscheiden, ob wir sie beantworten oder auch nicht. Die Herausforderung liegt darin, eine Form der Kommunikation* (und des Miteinanders) zu finden, mit der wir uns alle wohlfühlen. Darüber müssen wir miteinander ins Gespräch kommen. Dieser Prozess braucht Mut, Nachsicht mit uns selbst und anderen, und ein offenes Miteinander. Damit stärken wir uns gegenseitig. Natürlich ist mit der Vermeidung von Alltagsdiskriminierung noch nicht alles gut. Durch einen bewussten Umgang miteinander können wir jedoch dazu beitragen, dass sich Werte und Einstellungen in unserer Gesellschaft verändern und sich alle zugehörig fühlen.
*Den Begriff „Menschen mit unveränderlichen Merkmalen“ habe ich häufig im Internet gefunden. Ich finde ihn etwas hölzern, gleichzeitig aber offen genug, dass sich alle Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, darin wiederfinden.
Für weitere Informationen: Das 4-Ohren-Modell: Übrigens beinhaltet das sogenannte 4-Ohren-Modell des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun eine sehr anschauliche Darstellung der verschiedenen Aspekte einer Nachricht auf Sender*innen- und Empfänger*innen-Seite und kann helfen, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen.
August 2022