#36: Ann-Kathrin Hickert vom Theater Münster thematisiert Zugänglichkeit und Formate für entspannte Auftritte | KSL.NRW Direkt zum Inhalt

#36: Ann-Kathrin Hickert vom Theater Münster thematisiert Zugänglichkeit und Formate für entspannte Auftritte

Bannerbild Fensterblick Extern: blaue und merve-farbige Kacheln rahmen Fotos von Lisa Vössing vom KSL.Münster und Interviewpartnerin Ann-Kathrin Hickert vom Theater Münster - junge Frauen
 
 

#36

Fensterblick Extern

„Unser Format ,Theater entspannt‘ orientiert sich an den so genannten ,Relaxed Performances‘ (Deutsch: Entspannte Auftritte). Das ist eine Veranstaltungsidee, die ursprünglich von Menschen im Autismus-Spektrum entwickelt wurde. Aber ich sehe es persönlich absolut nicht als Sonderformat. Und ich glaube, das wird auch vom Publikum nicht so wahrgenommen.“

mit Ann-Kathrin Hickert (r.)| Interview von Lisa Vössing (l.)| KSL hinterfragt


blaue Facette

Lisa Vössing: In deiner Stellenausschreibung heißt es gleich an erster Stelle: „Sie konzipieren und realisieren Maßnahmen zur Verbesserung der Zugänglichkeit von Theaterangeboten für Menschen mit Behinderung.“ Wer im Bereich Inklusion arbeitet, weiß: Das ist eine vielfältige und sehr umfangreiche Aufgabe. Womit hast du begonnen? 

Ann-Kathrin Hickert: Am Anfang musste ich erst einmal verstehen, wie das Theater Münster organisiert ist, um herauszufinden, wie man so eine große Idee umsetzen kann und was man dafür verändern muss.
Ich habe auch angefangen, Menschen zu suchen, die ähnliche Ziele haben, und Kontakte zu knüpfen. Zuerst in Münster, weil dort schon viel für Inklusion getan wird. Es gibt viele Selbsthilfeorganisationen und freie Theatergruppen, die großartige Arbeit leisten. Außerdem gibt es Beiräte und Ansprechpersonen für Menschen mit Behinderungen.
Schließlich habe ich mich in unserer Branche umgeschaut, welche Theater sich schon mit Inklusion beschäftigen. Dabei kann man herausfinden: Welche Probleme gibt es? Wo gibt es Hindernisse innerhalb oder außerhalb des Theaters? Welche Erfahrungen waren gut? Welche Fehler kann man von Anfang an vermeiden? Was braucht das Publikum und was möchte es, um nicht am Bedarf vorbeizuarbeiten? Es bringt ja nichts, wenn man sehr viel Geld ausgibt und am Ende ein Publikum vor einem sitzt, das sagt: „Ja das ist ja total nett, aber eigentlich haben wir uns was ganz anderes gewünscht und gebraucht – und wären wir gefragt worden, hätten wir das auch geteilt.“ Dazu sind Austauschformate und Netzwerken unglaublich wichtig.


blaue Facette

Lisa: Starten wir doch mal mit der Zugänglichkeit für das Publikum: Welches Projekt hast du dir als Erstes vorgenommen?

Ann-Kathrin: Ich wollte zunächst Angebote für ein Publikum schaffen, für das unser Haus bislang nicht zugänglich war.


blaue Facette

Lisa: Wie ist das gelungen?

Ann-Kathrin: Wir haben zunächst mal angefangen, Produktionen mit Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache (Abkürzung: DGS) anzubieten. Seit 2023/24 bieten wir auch Vorstellungen mit Audiodeskription an (Abkürzung: AD ist eine hörbare Beschreibung, was gerade passiert, zum Beispiel in einem Film oder auf einer Bühne). Wir waren überrascht und zugleich sehr erfreut, wie schnell dieses Angebot angenommen wurde. Auch in der Spielzeit danach wurde das Stück wieder mit Audiodeskription angeboten und erneut sehr gut angekommen. 


blaue Facette

Lisa: Ein toller Erfolg. Was bedeutet das für die Abläufe im Theater selbst?

Ann-Kathrin: Zunächst einmal bedeutet dies mehr Aufwand. Aber dieser lohnt sich allemal. Gerade Audiodeskription ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell etwas komplett Neues in einen Theater-Alltag eingehen kann. Im Theater haben wir meistens einen engen Zeitplan. Neue Abläufe müssen möglichst sofort funktionieren. Für die Audiodeskription bedeutete es also, die Vorbereitungen und Strukturen anzupassen und technische Anschaffungen zu tätigen (Anmrekung der Redaktion: siehe Kasten „Mehr Teilhabe mit AD“).

Mehr Teilhabe mit AD

Audiodeskriptionen (AD) erhöhen die Teilhabe von blinden und sehbehinderten Menschen. Ann-Kathrin Hickert, Inklusionsagentin am Theater Münster, erklärt den Prozess, der sich an ihrem Hause etabliert hat:  

  • Die Audiodeskriptionen (AD) werden in unserem Haus eingesprochen. Dazu mussten wir uns vor dem Start mit der Tonabteilungen abstimmen: Was ist möglich? Was brauchen wir noch?
  • Darauf basierend – und im Austausch mit anderen Theatern – haben wir die Technik organisiert, mit der die Besucher*innen die AD mit ihrem eigenen Smartphone oder einem Leihgerät hören können.
  • Die Kolleg*innen in der Technik wurden zudem von externen Expert*innen geschult, die AD bereits an anderen Theatern umsetzen.
  • Dann haben wir zwei freie Mitarbeiter*innen engagiert, die die AD für die ausgewählten Stücke texten.
  • Und wir haben zwei Sprecher*innen ins Team geholt, die nun die AD live während der Vorführung sprechen.
  • Darüber hinaus war eine Weiterbildung der Öffentlichkeitsarbeit nötig, um die Frage zu beantworten: Wie können wir blindes und sehbehindertes Publikum erreichen?
  • Eine Prüfgruppe aus lokalen Expert*innen hat schließlich in der Generalprobe alles getestet und Feedback gegeben.

blaue Facette

Lisa: Was hat sich seit deinem Start als Inklusionsagentin noch am Theater getan, um die Zugänglichkeit für alle Menschen zu erhöhen?

Ann-kathrin: Unser Format „Theater entspannt“ orientiert sich an den so genannten „Relaxed Performances“ (Deutsch: Entspannte Auftritte). Das ist eine Veranstaltungsidee, die ursprünglich von Menschen im Autismus-Spektrum entwickelt wurde. Aber ich sehe es persönlich absolut nicht als Sonderformat. Und ich glaube, das wird auch vom Publikum nicht so wahrgenommen.


blaue Facette

lisa: Worum geht es dabei? 

ann-Kathrin: Kurz gesagt geht es darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Menschen wohl fühlen. In der es auch möglich ist Dinge zu tun, ohne Sorge vor negativen Reaktionen zu haben: laut zu lachen oder auch mal Geräusche zu machen, den Saal zu verlassen und wieder zu betreten. Dazu wird das Publikum bei „Theater entspannt“ ausdrücklich eingeladen. 

In diesem Video erfahren Sie noch mehr über „Theater entspannt“ am Theater Münster: 
(Video 2) In diesem Video sehen Sie, wie so eine Einführung aussieht: 
Platzhalter 

blaue Facette

Lisa Vössing: Wie läuft das ab?

Ann-Kathrin Hickert: Vor der Aufführung gibt es eine Begrüßung. Dazu gehe ich auf die Bühne und stelle das Konzept von „Theater entspannt“ vor. Eine Liste mit Warnungen vor sensiblen Inhalten und Reizen stellen wir inzwischen zu all unseren Eigenproduktionen zur Verfügung.


blaue Facette

Lisa Vössing:  Was bedeutet das genau? Was sind das für Hinweise?

Ann-Kathrin Hickert: Jede Person, die unser Theater besucht, soll im Vorfeld selbst entscheiden können, ob eine Produktion für sie geeignet ist oder nicht. Zum Beispiel: Gibt es vielleicht als unangenehme empfundene Themen? Was passiert auf der Bühne? Was gibt es für eine Lichtsituation? Wird es besonders laut in dem Stück? Gibt es plötzliche laute Geräusche und/oder Lichteffekte? Diese Kurzbeschreibungen nennen wir „Content-Hinweise“. Um diese schreiben zu können, werde ich zu allen Hauptproben eingeladen. Manchmal auch bereits davor. Das braucht dann einen größeren zeitlichen Vorlauf. Aber ich freue mich über dieses tolle Hilfsangebot für alle Theaterbesucher*innen.


blaue Facette

Lisa Vössing: Wenn sich das Publikum verändert, verändert sich ja auch etwas für die Schauspieler*innen auf der Bühne. Wie nehmen die Schauspieler*innen wahr, dass sich das Publikum während einer „Theater-entspannt-Vorstellung“ anders verhält?

Ann-Kathrin Hickert: Das ist spannend, weil es da am Anfang schon Verunsicherungen gab. Viele Menschen haben feste Vorstellungen davon, wie Theater funktionieren soll und wie sich das Publikum verhalten muss. Und da stand bei manch Einem oder Einer die Sorge im Raum, dass bei „Theater entspannt“ störende Geräusche herrschen oder alle 30 Sekunden Menschen aus dem Saal stürmen könnten. Mittlerweile gibt es viel Verständnis dafür, wieso dieses Angebot wichtig ist. 


blaue Facette

Lisa Vössing: In deiner Stellenbeschreibung steht auch: „Sie wirken dabei mit, mehr Künstler*innen mit Behinderungen zu Mitwirkenden in Produktionen werden zu lassen.“ Wie bist du diese Aufgabe angegangen?

Ann-Kathrin Hickert: Unsere Intendantin Dr. Katharina Kost-Tolmein ist eine große Fürsprecherin und Förderin unserer Bestrebungen, unser Haus für Menschen mit Behinderungen zugänglicher machen. Das gilt eben insbesondere auch für alle auf und hinter der Bühne. Für Schauspieler*innen und Regisseur*innen ebenso wie für Kostümbildner*innen. Es gibt viele Theaterschaffende, viele Talente, die bereits ausgebildet sind oder aktuell in der Ausbildung stehen. Und diesen Personen müssen wir jetzt den Weg bereiten.


blaue Facette

Lisa Vössing: Wie gewinnt das Theater Münster Künstler*innen generell und insbesondere Künstler*innen mit Behinderung?

Ann-Kathrin Hickert: Bei der Besetzung von offenen Stellen am Theater Münster halten wir uns daran, wer am besten zu uns und zu unserem künstlerischen Angebot passt. Das gilt generell. Aber wir erweitern ständig auch den Blick dafür, nach wem wir suchen. Wer zu uns kommt, soll die bestmöglichen Arbeitsbedingungen vorfinden. Wir wollen Strukturen bereitstellen, die ein Höchstmaß an Teilhabe ermöglichen. Ein Ansatz, von dem alle Darsteller*innen profitieren können. 


blaue Facette

Lisa Vössing: Deine Stelle gibt es an deutschen Theatern noch selten (Anmerkung der Redaktion: S. Kasten unten, wo es weitere Angebote zu inklusiven Kulturangeboten gibt). Trotzdem möchten viele Theater offener und zugänglicher werden. Welche einfachen Maßnahmen kann ein Theater mit deiner Erfahrung umsetzen?

Ann-Kathrin Hickert: Das sind vor allem Maßnahmen, die nicht viel Geld kosten. Das Format „Theater entspannt“ könnte meines Erachtens so etwas sein. Je nachdem, was genau angeboten wird. Es gibt auch kleine Dinge, die keine zusätzliche Förderung brauchen: Zum Beispiel kann man das Licht im Saal anpassen oder Gespräche vor und nach der Vorstellung anbieten. Das kostet zwar Zeit, die im Theater auch wertvoll ist, aber es braucht kein großes Budget. Trotzdem können solche Maßnahmen viel bewirken – besonders am Anfang.


blaue Facette

Lisa Vössing: Welche Rolle spielt dabei die Sensibilisierung aller Mitwirkenden am Theater?

Ann-Kathrin Hickert: Das spielt eine große Rolle. Ein Theater ist ein umfangreicher Betrieb, in dem viele Menschen arbeiten – von der Leitung bis zur Kasse. Deshalb ist Weiterbildung und Sensibilisierung für uns sehr wichtig. Manche Mitarbeitende bekommen spezielle Schulungen, andere können freiwillig Kurse besuchen, zum Beispiel einen Grundkurs in Gebärdensprache. Dafür holen wir Expert*innen mit eigener Erfahrung. Wir sind auf einem guten Weg.


blaue Facette

lisa Vössing: Vielen Dank für diesen interessanten Einblick in die Arbeit einer Inklusionsagentin. 

Ann-kathrin Hickert:  Gern geschehen.


Wo finden Sie Schulungen zu kultureller Teilhabe in NRW?

NRW: Schulungen  

Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung sind auch Aufgabe der KSL.NRW. Das KSL.Düsseldorf bietet Schulungen zu kultureller Teilhabe und zur Sensibilisierung von Mitarbeiter*innen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Interessierte können sich gern an das KSL.Düsseldorf wenden: info@ksl-düsseldorf.de

Welche Angebote zum Thema gibt es sonst in NRW?
 

Dortmund: Inklusionsmanagerinnen

Am Kinder- und Jugendtheater Dortmund engagieren sich drei Inklusions-Managerinnen dafür, dass Theater für alle möglich wird. 

Was sonst in Ihrem Regierungsbezirk los ist, erfahren Sie in unserem Veranstaltungskalender.

Kulturtandem 2025: Das inklusive Kulturfestival findet dieses Jahr am Samstag, den 29. November, auf Zollverein in Essen statt. Mehr lesen


März 2025

Zurück Zur Übersicht Vorwärts


Profilbild der KSL.NRW. Das Logo der KSL.NRW vor bunten Kacheln

Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben in NRW

Munscheidstr. 14
45886 Gelsenkirchen

Telefon: 0209-956600-30
E-Mail: info@ksl-nrw.de

Weiterführende Informationen

Zur Person: Ann-Kathrin Hickert

Ann-Kathrin Hickert hat an der RWTH Aachen Literatur- und Sprachwissenschaft studiert. In dieser Zeit arbeitete sie bereits als studentische Hilfskraft am Institut für Gebärdensprache und Gestik (SignGes). Ihr Masterstudium der „Kulturpoetik der Literatur und Medien" führte sie nach Münster, wo sie sich vor allem mit den Disability Studies und ihren intersektionalen Schnittstellen beschäftigte. Seit der Spielzeit 2022/23 ist sie als Inklusionsagentin am Theater Münster tätig und steht als Ansprechpartnerin für alle Themen rund um Zugänglichkeit und Inklusion zur Verfügung.

Ihren Weg zur Webseite des Theaters Münster: Zugänglichkeit

Kontakt per E-Mail: hickert@stadt-muenster.de
 


Interesse an weiteren Fensterblicken?

Barrierefreiheit

Iris Colsman hat 2016 das inklusive Kulturfestival KulturTandem auf den Weg gebracht und auch konzipiert. Seitdem kommt es einmal jährlich mit vielfältigsten Künstler*innen in unterschiedlichen Städten im Regierungsbezirk Düsseldorf auf die Bühne. Ihr Herzenswunsch ist, so zu zeigen, wie wunderbar Inklusion gelingen kann: In diesem Fall scheint es zu funktionieren, weil nicht Inklusion draufsteht, wo Kulturinteressierte Kunst, Theater, Comedy und Musik genießen.
Zum Beitrag Nr. 8

Zurück zur Übersicht