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„Aus Perspektive einer angehenden Fachkraft sehe ich riesiges Potenzial einer konstruktiven Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis mit der Selbstvertretung.““
von Gina Schmitz / Kommentar / KSL hinterfragt
Die vielen Handlungsfelder und Themen, in denen sich die KSL.NRW engagieren, haben mich neugierig gemacht, selbst Einblicke zu erhalten. Daher nutzte ich die Möglichkeit, mein Praxissemester im Studiengang Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik (HP&IP) an der EvH Bochum beim KSL Arnsberg zu absolvieren.
Während meine Mitstudierenden vorwiegend in traditionell heilpädagogischen Berufsfeldern tätig waren – also den Sonderwelten wie etwa Frühe Hilfen, Besondere Wohnformen und Werkstätte (WfbM) – fand ich mich dagegen in einem für die HP&IP sehr untypischen, aber absolut spannenden und geeigneten Feld wieder.
Insbesondere für die Inklusive Pädagogik, die noch in den Kinderschuhen steckt, öffnen sich neue Möglichkeiten und Chancen, um zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen. Denn mit unmittelbarer Berufung auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat sie den Auftrag, Inklusion in allen Lebensphasen und pädagogischen Handlungsfeldern zu gestalten und Barrieren abzubauen. Dabei spielt die Wertschätzung von Vielfalt eine entscheidende Rolle, in der jede Person ihren Platz in der Gesellschaft hat.
Durch den engen Kontakt zur (behindertenpolitischen) Selbsthilfe während meines Praktikums, wurde mir bewusst, dass ich aus einer „Hochschulblase“ komme. Mir wurde aufgezeigt, dass meine Ansichten aus der Wissenschaft nicht unbedingt mit denen der Selbsthilfe übereinstimmen müssen. Das betrifft etwa das Verständnis und die Bedeutung von Behinderung, Inklusion und der UN-BRK, aber auch die damit verbundene Sprache, Methodik sowie die Prioritäten und Ziele. Dabei wurde mir deutlich, wie unglaublich wertvoll das Wissen von Expert*innen in eigener Sache (Peerwissen) ist.
Ich bedauere sehr, dass es noch so wenige Berührungspunkte mit angehenden Fachkräften wie mir und der Selbstvertretung zu geben scheint. Auch mache ich die Erfahrung, dass der Stellenwert des Peer-Aspekts wenig bis gar nicht von meinen Mitstudierenden beachtet wird. Auch wenn Peerwissen langsam Einzug in die Fachwelt der Inklusiven Pädagogik findet, sollte es meiner Meinung nach noch stärker in Theorie und Praxis der HP&IP verankert werden.
Übrigens: An der EvH hat das dort angesiedelte Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS*) einen großen Einfluss. Als eigenständiges Forschungsfeld forschen in den Disability Studies (sinngemäß etwa „Behinderungswissenschaften“) behinderte Menschen selbst aktiv und nehmen eine neue Perspektive auf Behinderung in verschiedensten Fachrichtungen ein.
Wir haben noch einen langen, steinigen Weg vor uns, bis alle Menschen chancengleich und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Um dem näher zu kommen, braucht es Partizipation, frei nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“, indem behinderte Menschen den Vortritt haben und ihrer Stimme gebührendes Gewicht verliehen wird.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass behinderte Menschen allein nicht für die Anerkennung und Durchsetzung ihrer Menschenrechte kämpfen können und sollten.
Aus Perspektive einer angehenden Fachkraft sehe ich riesiges Potenzial einer konstruktiven Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis mit der Selbstvertretung – und zwar auf Augenhöhe, ohne jegliche Vereinnahmung und doch kritisch.
Dies kann aus meiner Sicht nur gelingen, indem sich die Heilpädagogik und insbesondere Inklusive Pädagogik (mehr) für Peer-Wissen öffnet, denn letztendlich verfolgen wir alle ein gemeinsames Ziel.
* BODYS beschreibt seine Mission auf der eigenen Webseite so: „BODYS will mit bahnbrechender partizipativer Forschung und Bildung dazu beitragen, soziale Gerechtigkeit für behinderte Menschen herzustellen und Menschenrechte für behinderte Menschen in Deutschland und weltweit zu verwirklichen."
Anlass für diesen Blog ist die Erkenntnis,
Es gibt Situationen, in denen wird schnell deutlich, dass die Kommunikation gerade diskriminierend war. Vor langer Zeit habe ich mal eine Frau mit Kopftuch in betont Leichter Sprache angesprochen, um sie etwas zu fragen. Die Frau antwortet in akzentfreiem Deutsch. Daraus habe ich gelernt, meine Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
Vor einigen Jahren beschrieben schwarze Menschen in Deutschland alltägliche Situationen, die sie selbst als ausgrenzend und diskriminierend erlebten. Fragen nach der „eigentlichen“ Herkunft, Zuschreibungen zu ihrer vermeintlichen Kultur und vieles mehr gehört dazu. An dieser Stelle fühlte ich mich ertappt. Ich finde Menschen spannend, die es schaffen aus einem anderen Land auszuwandern (freiwillig oder unfreiwillig) und hier bei uns Fuß zu fassen. Den Mut dazu hätte ich nicht. Schon oft habe ich jemanden gefragt, woher er oder sie kommt, nur weil ich neugierig war, ohne besonderen Anlass. Das dies auf die Person diskriminierend wirkt, weil ich sie als nicht voll dazugehörig identifiziert habe, kam mir gar nicht in den Sinn.
Dabei hätte ich es wissen können!
Als Mensch mit Behinderung kenne ich neugierige Fragen, die mir völlig unbekannten Personen stellen. Etwa danach, ob ich schon lange und warum ich im Rollstuhl sitze oder wie ich dies und jenes im Alltag meistere. Es gibt auch gutgemeinte Zuschreibung, wie großartig ich mein Leben meistere und, dass die sprechende Person nicht wisse, ob sie das in meiner Situation könne. Diese Fragen und Kommentare von Fremden erinnern mich daran, dass ich offensichtlich anders bin und nicht ganz dazugehöre. Ohne diese Kommentare könnte ich es glatt vergessen. Andere alltägliche Dinge sind wichtiger. Dabei finde ich diese kurzen Begegnungen ungemein bereichernd, wenn wir über Themen plaudern, die uns verbinden: etwa das Wetter oder den verspäteten Bus, ein neues Restaurant oder die Baustellen, die überall aus dem Boden sprießen und nie fertig zu werden scheinen.
Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen* machen mit Sicherheit ähnliche Erfahrungen, wie die oben beschriebenen.
Angehörige der meisten benachteiligten Gruppen möchten als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft verstanden werden und verstehen sich selbst auch so. Einfach dazugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Und das ist gut so, weil es eine Gesellschaft stark macht. Sie wehren sich gegen Ausgrenzung und kennen ihre Rechte. Leider ist es noch allzu oft so, dass Recht haben und Recht bekommen oder gerecht behandelt werden, nicht Hand in Hand gehen.
Selbst von Diskriminierung betroffen zu sein, schützt offensichtlich nicht davor, in die Neugierfalle zu tappen, wenn es um Menschen in anderen Lebenssituationen als der eigenen geht. Auch Menschen, die selbst von Diskriminierung betroffen sind, diskriminieren Menschen mit anderen unveränderlichen Merkmalen. Diese Erkenntnis hat mich, wie eingangs erwähnt, überrascht und irritiert.
Warum gelingt es uns oft nicht, Menschen unhinterfragt, das sein zu lassen, was sie sind? Menschen, die jetzt hier mit uns zusammen in dieser Situation sind. Warum quält uns die Neugier zu erfahren, woher jemand „eigentlich“ kommt oder warum jemand im Rollstuhl sitzt. Oder warum er*sie sich im falschen Körper fühlt. Was wir nicht kennen, verunsichert uns. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, Situationen zu kontrollieren und „Bescheid“ zu wissen.
Ein anderes Grundbedürfnis ist es, dass die eigene Privatsphäre gewahrt bleibt. Es liegt in der Entscheidung des einzelnen Menschen, welche Informationen er oder sie preisgibt oder eben auch nicht.
Alltagsdiskriminierung geht uns alle an und wir alle können etwas dagegen tun. Diskriminierungen passieren auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Haltungen und Handlungen werden von klein auf gelernt und unreflektiert übernommen. Sie müssen gemeinsam mit von Diskriminierung betroffenen Menschen entlarvt werden.
In der Konsequenz heißt das: Tappen wir insbesondere im Smalltalk nicht in die Neugierfalle über offensichtlich unveränderliche Merkmale, wenn es keinen sachlichen Grund gibt.
Wenn wir uns selbst diskriminiert fühlen, können wir im Sinne der Selbstsorge indiskrete Fragen anderer hinterfragen und entscheiden, ob wir sie beantworten oder auch nicht. Die Herausforderung liegt darin, eine Form der Kommunikation* (und des Miteinanders) zu finden, mit der wir uns alle wohlfühlen. Darüber müssen wir miteinander ins Gespräch kommen. Dieser Prozess braucht Mut, Nachsicht mit uns selbst und anderen, und ein offenes Miteinander. Damit stärken wir uns gegenseitig. Natürlich ist mit der Vermeidung von Alltagsdiskriminierung noch nicht alles gut. Durch einen bewussten Umgang miteinander können wir jedoch dazu beitragen, dass sich Werte und Einstellungen in unserer Gesellschaft verändern und sich alle zugehörig fühlen.
*Den Begriff „Menschen mit unveränderlichen Merkmalen“ habe ich häufig im Internet gefunden. Ich finde ihn etwas hölzern, gleichzeitig aber offen genug, dass sich alle Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, darin wiederfinden.
Für weitere Informationen: Das 4-Ohren-Modell: Übrigens beinhaltet das sogenannte 4-Ohren-Modell des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun eine sehr anschauliche Darstellung der verschiedenen Aspekte einer Nachricht auf Sender*innen- und Empfänger*innen-Seite und kann helfen, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen.
Juli 2022