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„Seit meine Behinderung sichtbar geworden ist, ist es für die Kolleg*innen leichter geworden, mit mir umzugehen. Es ist für mich seitdem ein leichteres Leben geworden, weil es ihnen hilft, mit mir umzugehen.“
mit Hannah Hübecker | Interview von Wibke Roth | KSL hinterfragt
Wibke Roth: Frau Hübecker, Sie sind 23 Jahre alt und studieren im 8. Semester Medizin an der Uniklinik Essen – und arbeiten als angehende Ärztin im zweiten praktischen Jahr auf Station. Sie waren vor Kurzem im Podcast Die neue Norm – #60 und #61 zu hören. Das Moderationsteam hat Mediziner*innen mit Behinderungen eingeladen. Themen waren „Berufung und Heilung“ sowie die Barrierefreiheit in der medizinischen Versorgung. Zwei Ihrer dort genannten Erfahrungen aus Ihrem beruflichen Alltag sind bei mir besonders hängen geblieben: Sie haben gesagt, dass Patient*innen Ihnen weniger zutrauen würden, und das nicht, weil Sie eine sichtbare Behinderung haben, sondern, weil Sie eine Frau sind. Zudem sagten Sie, dass Menschen in ihrem beruflichen Umfeld glauben, dass sie in der Schule eine Überfliegerin gewesen sein müssen, also intellektuell deutlich bessere Leistungen gebracht haben müssen, als andere nicht behinderte Studierende, um ein Medizinstudium angehen zu können – sozusagen als Ausgleich für Ihre körperliche Beeinträchtigung. Habe ich das richtig zusammengefasst?
Hannah Hübecker: Ja, das passt. Um das mit der Schule aufzulösen: Ich war eher eine Dreier-Kandidatin.
Wibke Roth: Sie haben Friedreich Ataxie, gehen Ihren Ausbildungsweg, müssen strukturelle Barrieren im Gesundheitswesen jedoch immer noch selbst ausräumen. Möchten Sie etwas vom Nachteilsausgleich erzählen? Wo hat es bei Ihnen – auch gern mit anderen Beispielen als dem Nachteilsausgleich – gehakt? Und wo hat man es Ihnen einfach gemacht?
Hannah Hübecker: Dadurch, dass wir im Medizin-Studium in Single-Choice-Klausuren fast nur Ankreuzen, bringt mir eine Zeitverlängerung nichts. Man hat mir zu Studienbeginn gesagt, dass die Zeitverlängerung der einzige Nachteilsausgleich sei, der für mich möglich wäre. Dieser hätte mir jedoch zumindest bei den Ankreuz-Klausuren nichts gebracht. Deshalb habe ich ihn damals nicht beantragt. Stattdessen hätten mir zentrale Sitzplatzregelungen etwas gebracht. So ein Hörsaal ist halt ein nicht barrierefreier Raum. Und da wurden uns die Sitzplätze halt immer zugelost. Dementsprechend konnte es dann schonmal sein, dass ich für die Klausur in der Mitte eines Hörsaals gesessen habe und meine Freunde mich dahin tragen mussten, weil es auf dem Weg dorthin Stufen gab und kein Geländer. Das hätte ohne das Anpacken von Freunden von mir nicht funktioniert. Damit das anders gelaufen wäre, hätte ich dazu für jede Klausur im Vorfeld ein Schreiben an bis zu 20 Zuständige verfassen und verschicken müssen. Da habe ich keine Kapazität für und auch keine Lust zu gehabt.
Jetzt habe ich zum ersten Mal einen Nachteilsausgleich beantragt und auch bekommen, und zwar für eine mündlich-praktische Prüfung, damit ich dabei einfach ein Drittel der Prüfungszeit mehr Zeit habe, um die Reflexe mit dem Reflexhammer zu finden.
Wibke Roth: War es einfach oder war es schwierig, den Nachteilsausgleich zu beantragen?
Hannah Hübecker: Das war schon aufwendig, aber nicht komplizierter als die anderen auch. Ich habe im Moment so einige Ausgleichs-Anträge laufen und befinde mich da in der Warteschleife. Ich werde dazu wieder meine Neurologin bitten, eine Stellungnahme zu schreiben. Da müssen halt bestimmte Punkte drin aufgeführt werden. Und meine Neurologin hat ja eigentlich andere Sachen zu tun als solche. Damit das noch zeitnah funktioniert, habe ich ihr den Brief vorgetippt. Und da ich nicht so schnell mit dem Tippen bin, hat das eben auch Zeit in Anspruch genommen. Da solche offiziellen Dinge gestempelt und per Post laufen müssen, braucht das auch Zeit. Dann muss man noch eine Kopie vom Behinderten-Ausweis an das Schwerbehindertensekretariat der Uni schicken, die das dann noch an den Dekan weiterleiten. Da die bei uns für den Nachteilsausgleich Zuständige seit letztem Jahr nicht mehr da und deshalb niemand zuständig ist, lief die Sache mit der mündlich-praktischen Prüfung direkt über den Dekan.
Mit dem LVR streite ich mich seit November 2023 für meine Wege zur Uni darum, Fahrtkosten-Erstattungen zu erreichen. Da das Klinikum an einem Hang liegt, ist es für mich vor allem bei Dunkelheit schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Das liegt daran, dass durch die Friedreich-Ataxie nur meine Augen einschätzen, ob der Weg gerade ist oder nicht. Sonst weiß ich nicht, wo oben und unten ist. Bei Dunkelheit bin ich quasi orientierungslos. Und wenn es glatt ist und ich mit meinem Rollator da hochmuss, rutsche ich weg. Auch hier muss meine Neurologin etwas schreiben, warum das sinnvoll ist, da der LVR sich schwertut, zu verstehen, warum An- und Abfahrten mit dem Wagen sinnvoll sind. Wir stehen in regelmäßigem Briefkontakt.
Wibke Roth: Jetzt haben wir viel über die Dinge geredet, die schwierig sind, unter anderem, weil starre Zeitvorgaben der Mehrheitsgesellschaft vor individuellen Zeitbedürfnissen stehen und Crip-Time als Konzept noch nicht anerkannt ist. Womit wurden Sie in Ihrem Medizinstudium positiv überrascht?
Hannah Hübecker: Ich glaube, dass es Menschen leichter fällt, mit sichtbaren Behinderungen umzugehen. Menschen ohne Behinderungen werden vermutlich durch ihre Unsicherheit getriggert, wenn etwas nicht sichtbar ist. Da gab es schon unfaires Verhalten. Da hätte ich ihnen natürlich durch Nachfragen helfen können, ihre eigene Unsicherheit abzubauen. Schade ist nur, dass die meisten nicht gefragt haben.
Seit meine Behinderung sichtbar geworden ist, ist es für die Kolleg*innen leichter geworden, mit mir umzugehen. Es ist für mich seitdem ein leichteres Leben geworden, weil es ihnen hilft, mit mir umzugehen. Früher haben sie vielleicht zum Beispiel gedacht: „Frau Hübecker ist betrunken. Also stecken wir sie in die Betrunkenen-Schublade.“ Heute ordnen sie mich durch die Sichtbarkeit anders ein: „Frau Hübecker ist behindert. Also stecken wir sie in die Behinderten-Schublade.“ Und auch, wenn ich kein Fan von Schubladen-Denken bin, ist es so nun näher an der Realität als es vorher war. Ich mache seitdem viel positivere Erfahrungen mit den Ärzt*innen als Kolleg*innen als ich dachte.
Schwierige Worte
Friedreich-Ataxie
Die Friedreich-Ataxie (Morbus Friedreich) ist eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dazu zählen unterschiedliche neurologische, psychische, orthopädische und kardiologische Symptome. Morbus Friedreich führt fortschreitend zu Koordinationsstörungen.
Single-Choice-Fragen
Dieser englische Begriff [single choice = eine Wahl] bedeutet, dass es in schriftlichen Prüfungssituationen unter anderem geschlossene Fragen gibt, bei der sich die Befragten aus vorgegebenen Kategorien für eine einzige Antwort entscheiden müssen.
Crip-Time
Dieser englische Begriff [Crip Time = Krüppelzeit] steht für ein Konzept, das unter anderem die starren Zeitvorgaben der Mehrheitsgesellschaft in Fragen stellt und Raum für individuelle Zeitbedürfnisse schafft. Ein Konzept beschreibt das so: „Crip Time beschreibt die komplexen Erfahrungen behinderter Menschen in ihrer Lebenswelt mit Zeit. Diese sind durch drei verschiedene Aspekte gekennzeichnet: Barrieren, Extra-Zeit aufgrund von Bedarfen und das Erreichen von Meilensteinen im Lebensablauf.“ Quelle der Erklärung: Crip Time | Diversity Arts Culture
Safe Place
Dieser englische Begriff [Safe Place = sicherer Platz] – oft auch Safer Space bezeichnet – ist ein Raum oder eine Umgebung, in der sich Menschen sicher und geschützt fühlen können, insbesondere vor Diskriminierung und Ausgrenzung.
Wibke Roth: Uns interessiert immer auch, welche Faktoren dazu führen, dass das Gesundheitssystem inklusiver wird: Die emeritierte Professorin Theresa Degener hat in unserem Praxishandbuch „Vielfalt Pflegen“ gefordert, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur Empfänger medizinischer Dienstleistungen, sondern auch als Akteure des Gesundheitssystems auftauchen – so, wie Sie. Was können sich andere von Ihrem Werdegang abgucken? Was raten Sie als Expertin in eigener Sache Ausbildungsinstitutionen?
Hannah Hübecker: Was ich in allen Bereichen schön finde, ist, dass Menschen immer viel Eigeninitiative zeigen; auch in Systemen, die alles andere als inklusiv sind, gibt es immer wieder Menschen, die ihr Bestes geben, um Inklusion umzusetzen. Unsere ehemalige Nachteilsbeauftragte war so jemand. Ich würde also jedem raten, so eine Person in seinem System zu sein – also eine Anlaufstelle bzw. ein Safe Place. Eine Bewegung kann in meinen Augen nur in Gang kommen, wenn sie von unten und von jedem einzelnen „kleinen“ Menschen kommt, damit sich etwas Großes wie ein System ändert.
Wibke Roth: Was raten Sie anderen „normalen Mädchen“, wie Sie sich selbst auf Ihrem Instagram-Kanal nennen, wenn Sie Medizinier*innen werden wollen?
Hannah Hübecker: Mir ist bewusst, dass ich trotz meiner Behinderung und trotz meines Geschlechts ein wahninnig privilegiertes Leben lebe und, dass mich Menschen in meinem Freundeskreis und in meiner Familie immer unterstützt haben. Einmal das Besinnen auf sich selbst, dass man versucht, ein selbstbewusster Mensch zu werden, was ich früher gar nicht war. Aber man kann sich immer etwas auf sich einbilden, egal was man macht. Jetzt mache ich etwas sehr Anspruchsvolles – im Sinne von viel. Vielleicht kann man sich mit Blick aufs Selbstbewusstsein einfach mehr an seinen Brüdern orientieren. Und zum anderen gibt es viele tolle Strukturen, die einen auffangen und helfen. Es gibt zum Beispiel ein Netzwerk für Studierende mit Behinderung (Nemo). Einfach, weil man sich austauschen kann mit Menschen, die dieselben Herausforderungen haben. Und mir haben auch die Sozialen Medien wie Instagram geholfen, mich nicht allein zu fühlen. Das ist gerade mit Blick auf die seltenen Erkrankungen eine Chance, sich auszutauschen.
Wibke Roth: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben.
Hannah Hübecker: Gern geschehen. Wir sehen uns beim Fachtag Inklusive Gesundheit!
Fachtag Inklusive Gesundheit: Wie kann unser Gesundheitssystem inklusiver werden? Am 10. September 2025 findet der Fachtag an der Hochschule Bochum statt. Mehr lesen
Juni 2025

Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben in NRW
Munscheidstr. 14
45886 Gelsenkirchen
Telefon: 0209-956600-30
E-Mail: info@ksl-nrw.de
Ergänzende Informationen:
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