Ein Bericht, der zeigt, dass partizipativer Gewaltschutz in Einrichtungen gelingen und allen Beteiligten etwas bringen kann | KSL.NRW Direkt zum Inhalt
Schmuckbild: DGS-Übersetzung von Ellen Romberg-Hoffmanns Blog mit einer DGS-Übersetzerin
Mensch hebt Finger in einem Warndreieck

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„Als Sozialarbeiterin, systemische Beraterin und Peer Beraterin begleite ich einen großen Wohnverbund bei der Erstellung ihrer Risikoanalyse und der Installierung ihres Gewaltschutzkonzeptes. Schon im Vorfeld hat sich die Einrichtungsleitung viele Gedanken dazu gemacht, wie sie die Mitarbeiter*innen, die Nutzer*innen und die Leitungen aller Abteilungen/Bereiche einbinden und mitnehmen kann. Der Prozess ist keinesfalls abgeschlossen, aber alle Teilnehmenden berichten von Veränderungen. Und dies macht Mut und motiviert alle!“

von Ellen Romberg-Hoffmann / Bericht / KSL vernetzt

Ich dachte mir nichts dabei, als ich Mitte der Neunziger Jahre zum ersten Mal von einer behinderten Frau aus dem Wohnheim hörte, sie habe in ihrer Pflegefamilie massive Gewalt erlebt. „Das ist ein Einzelfall“, war mein Gedanke. Ich hatte gerade erst angefangen, in dem Wohnheim zu arbeiten. Leider entpuppte sich dieser augenscheinlich tröstliche Gedanke ziemlich schnell als ein heftiger Irrtum. In den zwanzig Jahren, die ich in dem Wohnheim arbeitete, hörte ich immer wieder von Bewohner*innen, dass sie Gewalt in unterschiedlichen Settings erfahren hätten: von der Herkunftsfamilie bis zur Pflegefamilie, in Schulen, Heimen, Krankenhäusern bis hin zu Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo ich Übergriffe selbst beobachten konnte.

Deshalb war ich gar nicht so überrascht, als das RTL-Investigativ-Magazin „Team Wallraff“ um Journalist Günter Wallraff im Jahr 2017 erhebliche Übergriffe auf Menschen mit Behinderung in Werkstätten und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung öffentlich machte. Die Autor*innen um Dr. Monika Schröttle haben in einer Studie der Uni Bielefeld schon im Jahre 2004 daraufhin gewiesen, dass behinderte Menschen doppelt so oft (sexuelle) Gewalt erfahren als nichtbehinderte Menschen.


„Für Menschen mit Behinderung ist es sehr schwer, Personen zu finden, die ihnen glauben, wenn sie von Gewalterfahrungen berichten.(...)“

Das Gute im Schlechten: Rechtsverstöße werden erstmals für die Öffentlichkeit sichtbar und Aufsichtsbehörden müssen ermitteln

Als 2021 die Übergriffe und Vorkommnisse in der Diakonischen Stiftung Wittekindshof bekannt wurden, waren diese so massiv, dass dann doch niemand mehr wegsehen konnte. Und es betraf diesmal eine große, renommierte und bekannte Einrichtung – keine kleine Einrichtung, der man einfach die Betriebserlaubnis entziehen und die Bewohner*innen in einem anderen Wohnheim unterbringen konnte. Endlich waren die Heimaufsicht, die Staatsanwaltschaft und die Aufsichtsbehörden gezwungen, tätig zu werden und zu ermitteln.

Das war das Gute im Schlechten, denn jeder Mensch hat ein Recht auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben. Das gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Gewaltfreiheit ist ein Menschenrecht!


Das schwer Vorstellbare: Trotz rechtlicher Klarheit sind es Barrieren, die es Menschen mit Behinderung erschweren, von ihren Gewalterfahrungen zu berichten  

Für Menschen mit Behinderung ist es sehr schwer, Personen zu finden, die ihnen glauben, wenn sie von Gewalterfahrungen berichten. Und Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten und psychischen Beeinträchtigungen wird oftmals unterstellt, dass sie falsche Aussagen machen oder die Situation falsch wahrgenommen haben. Oftmals wird die Vorgehensweise als pädagogische Maßnahme deklariert und gechtfertigt. . Körperlich behinderte Menschen sind dagegen oftmals nicht in der Lage, Anlaufstellen gegen Gewalt zu erreichen, weil sie körperlich dazu nicht in der Lage und Beratungs- und Anlaufstellen nicht auf Behinderungen oder Beeinträchtigungen eingestellt sind. Es fehlt an barrierefreien Zugängen: das geht von Rampen und Aufzügen über den Gebrauch Leichter Sprache bis hin zur Dolmetschung in Deutscher Gebärdensprache.

Deutschland hat sich in der UN-BRK besonders verpflichtet, Menschen mit Behinderung vor jeder Form vor Gewalt zu schützen und weiterhin die Autonomie und die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung zu stärken. Aufgrund der Vorfälle im Wittekindshof initiierte das Land NRW ein Expertengremium, in dem Jurist*innen, Vertreter*innen der Selbsthilfe und Verbänden, Politiker*innen und andere eingebunden waren.

Daraus ergab sich unter anderem, dass die Landschaftsverbände ein Eckpunkte-Papier zum Thema Gewaltschutz herausbrachten. Die Landschaftsverbände verpflichten im Herbst 2022 alle Einrichtungen der Eingliederungshilfe, ein partizipativ erstelltes Gewaltschutzkonzept vorzulegen. Dies bedeutet, Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen mit ihren Nutzer*innen gemeinsam am Thema Gewaltprävention arbeiten.

Diese Vorgabe stellt viele Einrichtungen vor eine große Aufgabe, da ihnen eine partizipative Arbeitsweise fremd ist. Es ist für sie schwer vorstellbar, behinderte Menschen an einem solch komplexen Thema mitarbeiten zu lassen. Wie sollen zum Beispiel Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten Gefahren erkennen, wie könnten sie benennen, wo sie gefährdet sind oder wie Übergriffe verhindert werden können?

Natürlich brauchen Menschen mit Beeinträchtigung Schulungen und Workshops zum Thema Gewalt genauso, wie Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe auch. Es bedarf Aufklärung und Information darüber, was bereits alles Gewalt ist, wer als Täter*in in Frage kommt. Und es bedarf Informationen, wie Schutzmaßnahmen erfolgreich sein können. Die Schulungen müssen für alle verständlich konzipiert und formuliert sein.

Das Gute wird umsetzbar: Durch einen neuen, offenen Prozess mit externer Peer-Beratung tut sich etwas, das Mut macht und alle Beteiligten motiviert


Als Sozialarbeiterin, systemische Beraterin und Peer Beraterin begleite ich einen großen Wohnverbund bei der Erstellung ihrer Risikoanalyse und der Installierung ihres Gewaltschutzkonzeptes. Schon im Vorfeld hat sich die Einrichtungsleitung viele Gedanken dazu gemacht, wie sie die Mitarbeiter*innen, die Nutzer*innen und die Leitungen aller Abteilungen/Bereiche einbinden und mitnehmen kann. Der Prozess ist keinesfalls abgeschlossen, aber alle Teilnehmenden berichten von Veränderungen. Und dies macht Mut und motiviert alle!

Die Wohnbereichsleitung hat sich bewusst für eine externe Begleitung entschieden. Immer sollten unabhängige und kritische Gedanken von außen möglich sein. Dass ich als Peer Beraterin in die Einrichtung kam, war willkommen, wurde sehr begrüßt und letztendlich als hilfreich im Prozess empfunden. Im Vorfeld haben wir gemeinsam einen „Fahrplan“ erstellt und überlegt, in allen Bereichen eine Schulung zum Thema Gewalt durchzuführen und Informationen und Meinung einzuholen. Die Bereiche waren: geistige Behinderung, Wohneinrichtungen für ältere und jüngere mit psychischer Beeinträchtigung, Wohnmöglichkeiten für Suchtkranke auch geschützte Bereiche und BEWO.

Entstanden ist eine große Sammlung an Informationen und viele Lösungsideen, die nun in die Risikoanalyse und in das Gewaltschutzkonzept einfließen werden.

Bei der Konzeption war es uns eine verpflichtende Teilnahme wichtig, aber die Workshops sollten so geplant sein, dass sie gut in den Ablauf des Wohnheimalltags passt und niemanden überfordert. So entstand die Idee, in den verschiedenen Fachbereichen zweistündige Workshops zum Thema Gewaltprävention anzubieten. Diese waren zwar für alle verpflichtend, konnten aber in den Tagesablauf eingepasst werden. Wichtig war mir, die Bewohner*innen und den Beirat von Beginn an miteinzubinden.

Schlussendlich fanden drei verschiedene Workshops statt – jeweils leicht angepasst und modifiziert: für die Mitarbeiter*innen der verschiedenen Fachbereiche, für die Fachbereichsleitungen und gemischte Workshops mit Mitarbeiter*innen, Leitungen und dem Beirat. Begonnen wurde mit einer Schulung des Bewohnerbeirates, der bei unserem ersten Treffen durchaus skeptisch war. Alle waren von der Arbeit in der WfbM oder der Tagesstruktur freigestellt, einige wurden vom Fahrdienst gebracht, andere kamen selbstständig. Zum Auftakt war mehrfach die Wohnverbundsleitung anwesend. Dies half, die Wichtigkeit für die Beiratsmitglieder zu verdeutlichen.

Die Workshops starteten mit einer kurzen Einführung zu den Themen, was alles unter Gewalt verstanden werden kann, wer sie gegebenenfalls ausübt und welche Bedingungen Gewaltausübung leichter macht oder provozieren kann. In Kleingruppen wurde anschließend daran gearbeitet, was bereits gut in der Einrichtung läuft und welchen Handlungsbedarf es gibt. Abschließend wurde im Plenum dargestellt, welche Hilfs-, Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten es gibt. Der Austausch über gemachte Erfahrungen, das eigene Erlebte und Beobachtungen waren immer zentral in diesem Workshop. Mich beeindruckte zutiefst, mit welchem Engagement und mit welcher Intensität an dem Thema diskutiert, gestritten und gearbeitet wurde. Diese Form des konstruktiven, gemeinsamen Austauschs auf Augenhöhe war für alle eine große Bereicherung.

Perspektivwechsel als Gewinn empfinden: Austauschtreffen als Lösungsvorschläge sollen initiiert werden

Beeindruckt hat alle Teilnehmenden die Möglichkeit der Kooperation in allen Richtungen, Bewohner*innen helfen Mitarbeiter*innen und Mitarbeiter*innen helfen Bewohner*innen. Das erste Mal war ein Austausch auf Augenhöhe erfolgt. Gemeinsam wurden Lösungsvorschläge zur Vermeidung von kritischen Situationen entwickelt. Daraus entstand bereits im Workshop die Absicht, regelmäßige Austauschtreffen zwischen Bewohnerbeirat und Mitarbeiter*innen zu initiieren. Auch in den wöchentlichen Team – und Besprechungen für Bewohner*innen wird das Thema Gewaltschutz aufgenommen.

Viele Teilnehmer*innen äußerten, ihre Arbeit, ihre Haltung oder ihre Lebenswelt durch meine Fragestellungen mit anderen Augen zu sehen und konstruktiv zu hinterfragen. Und die gemeinsamen neuen Sichtweisen und Ideen zur Arbeit öffneten neue Türen. Die unterschiedliche Zusammensetzung der Workshops erlebten die Mitarbeiter*innen, Nutzer*innen und Leitungen durchweg als ebenso überraschend wie gewinnbringend. Damit wurde ein neuer Schritt im Fortbildungsbereich und in der Zusammenarbeit gemacht.

Obwohl diese Form des Miteinanders zu Beginn durchaus kritisch gesehen wurde, gingen die Teilnehmer*innen der partizipativen Workshops offen aufeinander zu und schnell wurde kooperiert. Die Mischung aus kurzem Input, Kleingruppenarbeit und Diskussionsrunden war eine hilfreiche Abwechslung, bei der alle ihre eigenen Sichtweisen einbringen konnten. 

Fazit: Jede ist Expertin, jeder ein Experte!

Und genau dies ist wichtig! Alle Menschen sind Expert*innen in eigener Sache. Damit behinderte Menschen die Verantwortung und das Expertentum übernehmen können, müssen sie persönlich gestärkt werden. Wir Berater*innen sprechen dann von „Empowerment“. Menschen mit Behinderung müssen die Möglichkeit haben, wie es ist, an sich selbst zu glauben, Selbstwirksamkeit aktiv zu erleben und schlussendlich selbstbewusst Forderungen stellen zu können. Dazu müssen sie ihre (Menschen-)Rechte kennen und sich trauen, für diese selbstverständlich einzutreten.

Sie müssen selber entscheiden, was gut für sie ist – unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Entscheidung. Nicht die Anbieter oder die Dienstpläne geben vor, wie der Alltag auszusehen hat, sondern die Menschen selber entscheiden, wann und was sie frühstücken, wann sie ins Bett gehen wollen oder welche Kleidung sie anziehen. Die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und die Auseinandersetzung mit der professionellen Rolle als pädagogische Mitarbeiter*in gewährleistet einen „natürlichen“ Schutz vor Gewalt und Übergriffen.  

Arbeitsblatt Gewaltschutz

Was läuft gut hier?

Wo sind die Stärken?

Was soll sich ändern?

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Wie kann die Situation verbessert werden?

So lauteten die Fragen, die Ellen Romberg-Hoffmann in die Gesprächsrunden mitbrachte. Dazu gab es die Ermunterung, offen zu denken und die Gedanken frei einzubringen. Das Motto: „Blöde" Gedanken gibt es nicht.

Weitere Informationen

Ellen Romberg-Hoffmann war vor ihrer freiberuflichen selbstständigen Tätigkeit als systemische Beraterin als Projektleiterin des KSL.Köln tätig, bevor sie im April 2023 in Rente ging. Die Sozialarbeiterin setzt sich nach wie vor für Schwerpunktthemen wie den Gewaltschutz ein.

Wenn Sie in Kontakt mit der Autorin treten möchten, können Sie sie gern über die oben verlinkte Webseite erreichen.

Auch das KSL.Köln setzt sich weiterhin für diese Themen ein.

 


September/Oktober 2023