Ein Interview mit Alexander Pröbstl, das klarmacht, wie vielfältig das Praxishandbuch Vielfalt Pflegen bei Patient*innen mit Behinderungen, Pflegenden und in der Infrastruktur des UK Bonn, wirkt | KSL.NRW Direkt zum Inhalt
Porträtfoto von Alexander Pröbstl im Fensterblick Extern. Pröbstl ist Vorstand für Pflege und Patientenservice am Universitätsklinikum Bonn. Das Bild ist eingebettet in den blauen Kacheln der KSL.NRW und Schmuckelementen in gelb
Mensch hebt Finger in einem Warndreieck

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„Das Buch Vielfalt Pflegen hat sehr stark gewirkt. (...) So haben wir den Prozess 2021 eingeleitet, indem wir entschieden haben, die Bücher an Schlüsselpersonen im UK Bonn zu verteilen: Also dem Leiter der Schule sowie jede*r Pflegedienstleitung und haben die Kolleg*innen motiviert, sich damit zu beschäftigen. Bei der Jahresabschluss-Veranstaltung im vergangenen Jahr haben wir über das KSL.Köln allen Stationen und jedem Bereich über 100 Bücher bereitgestellt.  Jeder Bereich hat dieses Buch seitdem vor Ort und es gehört sozusagen zur Stationsbibliothek. Und, weil wir ja in einer digitalen Welt leben, haben wir die Praxishandbücher natürlich auch als PDF verschickt (...) Und neben diesem Buttom-Up-Prinzip, durch das alle schon mal das Wissen zum richtigen Umgang mit Menschen mit Behinderungen im Krankenhaus haben, wäre dann ja sozusagen das Vorleben und das Implementieren durch die transformationale Führung der richtige nächste Schritt.“

von Alexander Pröbstl und Ko-KSL / Interview / KSL hinterfragt

Wibke Roth: Herr Pröbstl, Sie sind Vorstand der Pflegedirektion des Universitätsklinikums Bonn. Ihnen liegt das Selbstbestimmt sein Ihrer Patient*innen sehr am Herzen. Ich weiß von meinen Kolleg*innen des KSL.Köln – durch die Übergabe unseres Praxishandbuchs Vielfalt Pflegen, dass Sie einen persönlichen Bezug zur Selbstbestimmt-Leben-Bewegung haben. Wie kommt oder kam es dazu?

Alexander Pröbstl: Ich habe von 1976 bis 1978 bei der Stiftung Pfennigparade* in München Zivildienst gemacht. Dort wurden schwerbehinderte junge Leute zum Schulabschluss geführt, die dort zusammenlebten. Jugendliche mit Tetraplegie, mit Spina Bifida und Polio. In dieser Zeit wurde die Diskussion geführt, wie man eine andere Form des Zusammenlebens für die jungen Leute schaffen kann. Sie waren dort zwar in Wohneinheiten untergebracht, aber ohne, dass es als familiäre Lebenssituation gestaltet war. Man war dort bemüht, dies – auch unter Einbindung des Schulbetriebs – gut im Sinne der jungen Leute zu gestalten, aber das Leben in einer Familie war einfach nicht möglich und wir haben uns damals als Zivildienstleistende mit einem Sozialpädagogen darüber auseinandergesetzt: „Wie könnten wir das verändern?“ Und am Ende stand die Gründung eines Vereins, der sich damals Happy House, also glückliches Haus, nannte. Die Initiatoren haben dann gemeinsam mit den Sozialpädagogen Wohnungen und Häuser gemietet und sind mit den Menschen mit Einschränkungen zusammengezogen. FSJler und viele Ehrenamtler gestalteten also Wohnsituationen, in denen man in einem familiären Umfeld – in einem eigenen Haus lebte, das teilweise nicht behindertengerecht war. Dann haben wir angefangen, mit dem Schreiner zusammen Rampen zu bauen und haben die Situation so gestaltet, dass die Wohnsituationen lebensgerechter wurde.  Dieses Projekt ist über Jahrzehnte fortgeschritten. Mich persönlich hat dieses Erleben, was alles möglich ist, sehr geprägt. Statt also die Vorstellung aufrecht zu erhalten, dass schwerstbehinderte junge Leute mit Polio nicht ohne ihre Beatmungstechnik außerhalb eines geschützten medizinischen abgesicherten Bereichs sein zu können, haben wir es gewagt, diese Grenzen zu durchbrechen.

Wer die Bilder der Eisernen Lunge im Kopf hat, oder das Erleben, wenn man vor diesem Gerät steht, war tief beeindruckt von diesem Monstrum mit diesen großen Drehknöpfen und Vakuum-Funktionen. Ich war davon als junger Mensch völlig geplättet. Die Krankenschwester sagte damals zu mir: „Du drehst den Knopf da und oben muss alles dicht sein.“ Und dann war ich eben vom Kopf her nur mit der Behinderung beschäftigt und habe überhaupt noch nicht verstanden, dass da ein intelligenter Mensch behandelt wird, der einen bei jedem Schachspiel schlägt. Wie auch? Heute zählt zu den Ausbildungen von Pflegefachfrauen und -männern dieser Zugang dazu – dass nicht die Behinderung, sondern der Mensch im Vordergrund steht, beziehungsweise im Krankenhaus der Mensch, und nicht nur das gebrochene Bein oder die Schädelfraktur. Durch meine persönlichen Erfahrungen in meinem Leben – als Zivildienstleistender bin ich ja ins kalte Wasser gesprungen – erkenne ich bei den Schicksalen, die uns in der täglichen Arbeit begegnen, dass die Thematik der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen häufig in diesem Massenbetrieb der Somatik, immer wieder ins Bewusstsein gehoben werden muss. Das ist durch meine Lebenserfahrung eben auch mein Steckenpferd. Um die Erfahrung mit den Jugendlichen noch abzuschließen: Wir sind mit den Jugendlichen und ihrem Beatmungsgerät in einer Gondel über die Kanäle von Venedig gefahren. Aus heutiger Sicht völlig verrückt, dass man das gemacht hat. Und doch: Wir haben uns das getraut und ihnen glückliche Zeiten beschert.


Wibke Roth: Mir ist klar geworden, dass bei Ihnen im Gegensatz zu kleineren Krankenhäusern oder Rehabilitationseinrichtungen vor allem Patient*innen untergebracht sind, die einen Unfall hatten und die nach der lebensrettenden OP im Durchschnitt maximal sechs Tage bei Ihnen verweilen, bevor sie beispielsweise in die Rehabilitation oder in kleinere Krankenhäuser verlegt werden. Das sind Menschen, die ganz frisch mit einer Behinderung konfrontiert sind.

Alexander Pröbstl: Richtig. Die Frau oder den Mann auf das Leben mit der Behinderung vorzubereiten, das findet nicht im Krankenhaus, in der Akutversorgung statt. Das findet eher in kleineren Krankenhäusern statt, die sehr eng mit den Behinderteneinrichtungen zusammenarbeiten, wo die Patient*innen länger verweilen. In der Zeit hier vor Ort ist kein Raum, um darüber zu reflektieren: Welche persönlichen Auswirkungen hat die OP für die Patientin oder den Patienten?


Wibke Roth: Sie haben unser Praxishandbuch Vielfalt Pflegen im Jahr 2021 ausgegeben. Uns interessiert natürlich, wie es am UK Bonn eingesetzt wird, und, was sich dadurch in Ihrem Krankenhaus bewegen ließ?

Alexander Pröbstl: Das Buch Vielfalt Pflegen hat sehr stark gewirkt. Zum einen, dass es von den ausformulierten Interviews auch auf die Online-Plattform mit Video-Sequenzen verweist, in denen man die Menschen mit Behinderungen mit ihren Erfahrungen in Kliniken zu Wort kommen lässt. Die Filme haben mich sehr beeindruckt. Durch die Authentizität der Menschen, die da gesprochen haben, kann man auch als Laie, wenn man sich selbst noch nicht mit der Interaktion und Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen beschäftigt hat, gut die Bedeutung nachvollziehen. Zum anderen finde ich es gut, dass es das Buch nicht ausschließlich in digitaler Form, sondern auch zum schnellen Nachblättern als gedrucktes Werk gibt.

An das Praxishandbuch bin ich durch einen Impulsvortrag von der Landesbehindertenbeauftragten Claudia Middendorf gekommen. Den Impuls habe ich in unsere Jahresabschluss-Veranstaltung für die Stationsleitungen vor fast zwei Jahren genommen. Dafür hatten sich die Kolleg*innen mit dem Buch auseinandergesetzt. Die Kolleg*innen sagten, dass dies ein Impuls sei, den es so nicht im Betrieb gebe. Natürlich, so der Tenor, haben alle ihre fachliche Qualifikation, haben Krankenpflege gelernt und sind in der Thematik zu Hause, aber es ist noch mal ein anderer Blick, ob man in der Maximalversorgung mit kurzfristiger Verweildauer, oder, ob man in der Behindertenarbeit unterwegs ist. So haben wir den Prozess 2021 eingeleitet, indem wir entschieden haben, die Bücher an Schlüsselpersonen im UK Bonn zu verteilen: Also dem Leiter der Schule sowie jede*r Pflegedienstleitung und haben die Kolleg*innen motiviert, sich damit zu beschäftigen. Bei der Jahresabschluss-Veranstaltung im vergangenen Jahr haben wir über das KSL.Köln allen Stationen und jedem Bereich über 100 Bücher bereitgestellt.  Jeder Bereich hat dieses Buch seitdem vor Ort und es gehört sozusagen zur Stationsbibliothek. Und, weil wir ja in einer digitalen Welt leben, haben wir die Praxishandbücher natürlich auch als PDF verschickt.


Wibke Roth: Was haben die Pflegefachfrauen und -männer sowie die Gesundheits- und Krankenpflegeassistent*innen Ihnen zurückgemeldet?

Alexander Pröbstl: Nahezu alle haben mir gesagt, das ist so gut, dass man das gedruckte Buch im stark digitalen Stationsalltag in der Hand hat, dass man rasch nach unterschiedlichen Themen übersichtlich nachschlagen kann, zum Beispiel, wie der Umgang mit einem Menschen mit verändertem Lernverhalten ist, der auch in einem Krankenhaus als Patient mit seinem veränderten Lernverhalten oder seinen Möglichkeiten sich auszudrücken, anders wahrgenommen wird und man sagt: „Ok, ich kann da versuchen, den Zugang anders zu gestalten.“ Man kann zudem schnell Antworten auf Fragen wie diese finden: „Wo kriege ich jemanden her, der jetzt bei einer Übersetzung oder bei einer Gesprächsführung mit einem Menschen hilft, der nicht hörend oder taubblind ist?“  Oder, wenn es sich um einen Menschen mit mehrfachen Behinderungen handelt. So sind allein aus der Verfügbarkeit des Buches und der Möglichkeit nachzuschlagen, auch neue Fragestellungen entstanden.  Also ich glaube, dass wir buttom up gegangen sind, war, was auch anhand der Rückmeldungen zu sehen ist, ein ganz guter Prozess.


Wibke Roth: Sie setzen das Praxishandbuch strategisch im Zuge der Magnet 4Europe-Studie ein – es gab im Herbst 2021 eine Arbeitsgruppe in Ihrem Haus, die das Konzept „Sensibilisierung für Menschen mit Sinneseinschränkungen“ in der Augen- und HNO-Klinik umgesetzt hat. (Anm. der Redaktion: Ein Magnetkrankenhaus ist ein Krankenhaus, in dem Menschen besonders gern arbeiten – es zieht Arbeitnehmer*innen zum Beispiel wegen des guten Rufs an, weil es dort ein guter Platz ist, um zu arbeiten.) In der Studie geht es grob gesagt um die Verbesserung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens in der Arbeitswelt von Gesundheitspersonal – zunächst entwickelt für den US-amerikanischen Markt. Möchten Sie einordnend etwas zu der Studie sagen – in welcher Rolle das UK-Bonn daran als europäische Klinik teilnimmt und inwiefern das Praxishandbuch darin mit der verbesserten Kommunikation und Interaktion mit Menschen mit Behinderungen – irgendwann – etwas bewirken kann?

Hintergrundwissen zur Entstehung des Projekts „Sensibilisierung für Menschen mit Sinneseinschränkungen“:

Der Überblick zur Entstehung des Projekts stammt von Grazyna Motyka, stellvertretende Pflegebereichsleitung des chirurgischen Zentrums:

  • Magnet4Europe-Studie(link is external): Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung spielen innerhalb der randomisierten Magnet4Europe-Studie, an der das UK Bonn als Interventionskrankenhaus teilnimmt, eine bedeutende Rolle (2020 - 2023)
  • Ausgabe des Praxishandbuchs Vielfalt Pflegen: Kontinuierliche Wissensverbesserung von der Basis aus („buttom up“) (2021)
  • Einbindung des Praxishandbuchs in die generalistische Pflegeausbildung (2021)

Die Entstehung des Projektes „Sensibilisierung für Menschen mit Sinneseinschränkungen“ ist multifaktoriell. Das Gesundheitswesen und insbesondere die Krankenhausversorgung in Deutschland stehen aktuell unter enormem Veränderungsdruck. Die Magnet 4Europe-Studie ist die bislang größte Studie im Pflegeumfeld im europäischen Raum. In den USA wurden 1983 die ersten Studien in Auftrag gegeben, die die charakteristischen Unterschiede zwischen den Krankenhäusern ermitteln sollten. Einer von vielen Aspekten: In Magnetkrankenhäusern werden Fremdbeobachtungsmaßnahmen gezielt eingesetzt, fördern so die Entwicklung des Pflegepersonals und erweitern dessen Wissenshorizont. Am Qualitätsverbesserungsprozess sind Pflegende aktiv beteiligt. Im Herbst 2021 hat Grazyna Motyka, stellvertretende Pflegebereichsleitung des chirurgischen Zentrums, zwei Stationsleitungen in der Augen- und HNO-Klinik angesprochen und nach Rücksprache mit Alexander Pröbstl eine Arbeitsgruppe gegründet, um ein Konzept „Sensibilisierung für Menschen mit Sinneseinschränkungen“ im Stationskontext zu erarbeiten.

Alexander Pröbstl: Das Ziel ist, festzustellen, inwieweit das US-amerikanische Konzept der Magnet-Krankenhäuser auf den europäischen Krankenhaus-Sektor angewandt werden kann. Anhand eines Katalogs mit etwas über 70 Items wird zum Beispiel abgeprüft, ob die Krankenschwester, die dort arbeitet, eine Ausbildung hat. Wenn ja: Hat sie eine einjährige, zweijährige oder dreijährige, ein Bachelor- oder ein Masterstudium oder eine Promotion? Und wie ist das Verhältnis von angelernten Kräften zu höher qualifizierten Kräften? Ziel ist auch, herauszufinden, warum ein Krankenhaus als Magnet wirkt und Menschen dort besonders gern arbeiten möchten. Das hat auch mit der Personalausstattung zu tun. Wenn zum Beispiel die Personalausstattung gut ist, tut es den Patient*innen gut. In der Regel sollte das so sein, dass dann auch Pflege beim Patienten im positivsten Sinne ankommt, und, ob Hilfsmittel da sind, um administrative Prozesse zu reduzieren. Gibt es also IT-Technologie? Gibt es Schwestern, die mit dem iPad arbeiten und so rasch auf Informationen zugreifen können? Durch das Praxishandbuch – auch im digitalen Format - könnten sie jetzt darauf zugreifen. Zum Beispiel bei der Frage: „Was brauchen Mitarbeitende der Pflege bei einem blinden Menschen?“ In dem Buch steht: Es muss für sie in jedem Fall Informationen auf eine andere Weise zur Verfügung gestellt werden und gibt direkt Tipps, welche. Und natürlich geht es auch um Aspekte, inwieweit das Krankenhaus dazu in der Lage ist, seine Mitarbeiter*innen auch vor Schäden zu schützen, zum Beispiel durch Präventionsprogramme. Und am Ende zählt: Was dient dem Wohle der Patient*innen? Um zu überprüfen, ob sich das Magnet-Konzept der Amerikaner auf den europäischen Markt übertragen lässt, gibt es eine ausgewählte Anzahl von Krankenhäusern in Europa, die an dem Programm teilnehmen: Die einen als Kontroll-Krankenhaus, also Kontrollgruppe und eine Gruppe als Interventionsgruppe, in der die Maßnahmen sofort umgesetzt werden, also das Programm, aus den über 70 Items. Anhand der Interventionsgruppe wird festgestellt: Wo stehen die anderen Krankenhäuser im Vergleich? Die können durchaus auch gute Krankenhäuser sein, vielleicht noch bessere Magnet-Hospitäler, ohne dass man das durch das Programm herausbekommen muss. Wir sind jedenfalls Interventionskrankenhaus. Wir stellen das Klinikum also komplett auf diese Ideen um und verändern damit Arbeitsprozesse. Insofern passt Ihre Idee, mit dem Praxishandbuch Vielfalt Pflegen hier die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen zu fördern, gut dazu.


Wibke Roth: In der Studie geht es auch um die Bedeutungsogenannter „transformationale Führung**“ – und die kann letztendlich für den Einsatz des Praxishandbuchs und die Resultate, wie mit Menschen mit Behinderungen interagiert und kommuniziert wird, erheblich sein …

Alexander Pröbstl: Genau. Es geht letzten Endes um die Frage: Wie erreiche ich den Patienten am besten? Dies gelingt über transformationale Führung gut, statt grundsätzlich über hierarchisch organisierte Führung. Am Beispiel der Führung von Pflegenden heißt das bei uns am UK Bonn: Wir wollen die individuellen Fähigkeiten unserer Mitarbeiter*innen stärker fördern. So haben bei uns Krankenschwestern möglicherweise ganz unterschiedliche Fähigkeiten. Die eine sagt von sich: „Ich bin eine super Managerin“. Eine andere weiß: „Ich bin aber eine tolle Lehrerin, ich kann die praktische Ausbildung gestalten.“ Eine dritte Krankenschwester sagt: „Ich möchte die wissenschaftlichen Aspekte mitberücksichtigen und unser Handeln auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren und nicht auf erfahrungsgeleitetem Wissen.“ Das heißt, es geht darum, dass sie Kompetenzen erwerben, wie zum Beispiel durch die Arbeit mit dem Praxishandbuch. So handeln sie durch den Kompetenzerwerb – von sich aus und durch uns gefördert – auf Grundlagen von aktuellem und fachlich gestütztem Wissen heraus, anstatt aufgrund einer Jahrzehnte zurückliegenden Ausbildung. Damit verändern wir Führung. Und das ist besser für die Beschäftigten, weil sie so hoch kompetente Ansprechpartner werden. Und so muss auch nicht mehr eine Person plötzlich alles können.  Und diesen Veränderungsprozess haben wir gestartet, und zwar mit Stationen, die genauso arbeiten. Auf unserer große Intensivstation für Kinder ist das zum Beispiel so. Da sind drei Krankenschwestern, die das sensationell machen. Sie bilden diesen Kanon – ihren Kompetenzen entsprechend zu führen ab, die eine bildet aus, die andere hat sich der Wissenschaft verschrieben, die Dritte managt die Station. Die arbeiten ganz anders mit den Eltern der kleinen Patient*innen zusammen. Zum Beispiel beraten sie die Eltern – auch, wie sie zum Beispiel mit Hilfsgeräten im häuslichen Bereich umgehen. Sie würden dann – im Falle von Patient*innen mit Behinderungen – auch beraten, indem sie sagen: „Das können Sie in dem Praxishandbuch Vielfalt Pflegen“ nachlesen. Auf solchen Stationen ist eine ganz andere Dynamik im Umgang mit den Patient*innen oder Angehörigen, als wir es vielleicht von anderen Stationen kennen. Gleichzeitig gibt auch noch traditionelle Stationen mit einer Stationsschwester, die dort „herrscht“ – ja klar. (Alexander Pröbstl lacht).


Wibke Roth: In der Studie geht es auch um die psychische Gesundheit von Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten. Sie sagten, Ergebnisse, wie sich zum Beispiel die Gesundheit der Mitarbeiter*innen auf das Wohl der Patient*innen mit und ohne Behinderungen auswirkt, zum Beispiel, weil man Stress durch Kompetenzen im Bereich Kommunikation und Interaktion für beide Seiten senken kann, gibt es noch nicht…

Alexander Pröbstl: Nein, darüber gibt es noch keine Erkenntnisse. Ich verwende jedoch immer ganz gern den Satz: Geht's der Pflegekraft und dem Arzt gut, geht‘s den Patienten gut. Wenn ich also grundsätzlich Rahmenbedingungen schaffe, in denen Arbeit gut bewältigt werden kann, verursacht das letzten Endes eine positive Stimmung. Dann ist man auch offener für andere Themen und hat einen Blick für die Patienten.

Wibke Roth: Was wünschen Sie sich allgemein für Ihren Bereich mit Blick auf eine gute Patient*innen-Versorgung?

Alexander Pröbstl: Personen, die sich mit Gleichstellung und Inklusion und Diversität beschäftigen. Wir haben Diversitätsmanagement eingeführt, das sind – ich sag das jetzt mal ganz offen und ehrlich – erste Schritte. Bei uns ist die Gleichstellungsbeauftragte stark etabliert. Sie hat ein breites Spektrum an Inhalten und ist auch vollständig dafür freigestellt. Sie berichtet direkt an den Vorstand und kann unabhängig von ihm handeln. Aber das reicht meines Erachtens im Moment noch nicht aus, denn, wenn ich die Idee der Inklusion sehe, dann ist da einfach noch viel Arbeit. Es kann aber im Zuge dieser transformationalen Führung im Rahmen dieser Studie, etwas angestoßen werden. Ich weiß zwar noch nicht, wann sie abgeschlossen sein wird. Der Gleichstellungsbeauftragten habe ich einfach Ihre Fragen gestellt und sie hat mir gesagt, dass sie sich dann auf diese Art und Weise natürlich in die Struktur bringen würden.
Und neben diesem Buttom-Up-Prinzip, durch das alle schon mal das Wissen zum richtigen Umgang mit Menschen mit Behinderungen im Krankenhaus haben, wäre dann ja sozusagen das Vorleben und das Implementieren durch die transformationale Führung der richtige nächste Schritt.

Wir entwickeln hier viel. Am Klinikum heißt das: Wenn wir zum Beispiel an der Entwicklung eines neuen Gebäudes arbeiten: Wer muss mit daran teilhaben oder teilnehmen und mitwirken? Neben Fragen zum Arbeitsschutz, ob die Türe breit genug ist und, ob sie in die richtige Richtung aufgeht, ist da natürlich auch die Frage, ob die Türklinke geeignet ist, damit sie ein Patient vom Rollstuhl aus bedienen kann. Das gehört bereits seit vielen Jahren auch zu unserem Standard. Wenn wir bauen, gibt es bei uns die sogenannte Nutzer-Besprechung, an der eben auch alle Beauftragten mit den unterschiedlichen Themenschwerpunkten teilnehmen, um alle Aspekte mit einbringen zu können. Das hat sich gut bewährt. Zum Beispiel, wenn ein Mensch postoperativ eine temporäre oder dauerhafte Mobilitätseinschränkung hat, wird heute anders gebaut, als das noch vor vielen Jahren der Fall war. Übrigens nutzt unser Architekt auch Ihren Wegweiser Barrierefreiheit. Noch vor ein paar Jahren noch, da gab es ein behindertengerechtes Zimmer in einem Krankenhaus pro Station. Darüber hat man dann gesagt: Es gibt ein behindertengerechtes Zimmer, ein behindertengerechtes Bad – das, was eben in den Normen vorgesehen ist. Aber ich kann viel mehr tun als das, was in den Normen steht: Ich kann visualisieren, ich kann Farbe verwenden, ich kann Bildschirmsymbole verwenden… ich nenne es mal querdenken, und zwar weg von den Normen. Natürlich muss es noch bezahlbar bleiben, aber indem man verschiedene Expert*innen mit einbezieht, dann kommt man zu einem besseren Ergebnis. Um Inklusion strukturell im Gesundheitssystem auf einen besseren Weg zu bringen, muss ich exemplarisch professionelle Praxis leben. Ja, ich kann Beispiele entwickeln, wie zum Beispiel unsere geriatrisch-orthopädische Station. Es war eine sehr interessante Begebenheit, als wir eine Station umbauen wollten, in der wir orthopädische Patienten untergebracht haben und es hat sich gezeigt, dass es gut ist, eine Station zu haben, wo wir geriatrische orthopädische Patienten unterbringen können – und haben dann mit den Umbauten begonnen. Wir hatten festgestellt, dass die Räume aus dem klassischen Krankenhausbau, nicht geeignet sind, um einen älteren Menschen, der nach einer großen Operation im Becken-Bereich, mit den Begebenheiten der sanitären Einrichtungen nicht mehr zurechtkommt.  Und dann haben wir Bildelemente verwendet. Jedes Zimmer ist nach einem Bauwerk aus der Stadt Bonn benannt, Münster oder der Bonner Hauptbahnhof in seiner alten Form oder, man hat man hat eben bekannte Objekte, wie den langen Eugen aus der Bundesregierung, die ältere Menschen gut erkennen können, weil sie eben was mit ihrer Geschichte zu tun haben. Das heißt: Man muss die Zimmer anders ausstatten und man nennt es dann eben behindertengerecht. So haben wir angefangen. Das sind Fallbeispiele, die gut funktioniert haben.

Wir haben fantastische Kinder-Stationen gebaut, wo mehr Beweglichkeit für die Kinder möglich ist, die jetzt in einem Rollstuhl sitzen, oder, wo sich die Eltern unterbringen lassen, und zwar so ergonomisch gestaltet, dass dort eine Spiel-Situation zu verschiedenen Themen entstehen kann. In der Vergangenheit gab es hier zwei Betten mit einer Mindestabstand-Norm, dann vielleicht noch ein Liegestuhl, auf dem sich die Mutter zum Kind legen kann. Das braucht es heute nicht mehr. Wir haben eine komplette Veränderung erlebt. Ich glaube, es geht darum, dass man ein Gesamtpaket aus einer Vielzahl von Dingen schnürt, die letztlich zu einer besseren Arbeitswelt führen. Das will ich zukünftig immer mehr tun.


Wibke Roth: Was könnte Ihrer Meinung nach in der Pflegedebatte anders laufen und warum?

Alexander Pröbstl: In der Krankenpflege dominiert die Debatte über den Pflegenotstand. Ich mag das Wort nicht, weil wir keinen Notstand in dieser Sache haben. In der Ukraine haben wir einen Notstand, ja. Und ja: Wir haben einen Mangel an Fachkräften und es geht nur darum, wie schlecht es denen geht. So verlieren wir jedoch komplett den Blick für die Patienten. Am Ende geht es darum, den Patienten, den behinderten Menschen, den Menschen, die Unterstützungsbedarf und einen Anspruch auf Selbstständigkeit haben, dass diese Menschen vielleicht nicht möchten, dass ihnen geholfen wird. Sie möchten, dass die Türe so gebaut wird, dass sie sie selbst öffnen und durchgehen können. Das Credo unserer Klinik ist die Meta-Theorie von Dorothea Orem – die sogenannte Pflegekompetenz***. Ich als Pfleger helfe den Patienten, dass Sie sich zum Beispiel selbst waschen können. Die Steigerung dieser Selbstkompetenz ist zentrale Aufgabe der Pflege. Und es ist wichtig, immer wieder das Bewusstsein zu schaffen, dass es Hilfsmittel und Instrumente gibt, die angewendet werden können. Und das ist ein weiterer hohe Wert eines solchen Buches, denn eine gut ausgebildete Ärztin, Arzt oder Krankenschwester hat theoretisch diese Kenntnisse. Aber ich habe auch in meinem beruflichen oder auch in meinem privaten Leben festgestellt: Bestimmte Themen sind nicht im Alltagsbewusstsein, auch im professionellen Bewusstsein. Wir haben natürlich hier Personen für unsere Patienten, die wie unsere Ergotherapeuten ergänzend etwas für unsere Patient*innen tun, wie Bewegungsabläufe zu üben, oder Logopäden, die an der Sprache von Kindern oder Patienten mit Schlaganfällen arbeiten. Aber das sind eben immer ganz spezifische Situationen für ein bestimmtes Krankheitsgeschehen oder eine Krankheit. Wie man jedoch mit Menschen umgeht, die unterschiedliche Einschränkungen oder Behinderungen haben: Das ist noch außerhalb der Routine. So eine Haltungsveränderung zu erreichen ist wirklich ein langer Prozess. Doch wir haben ihn hier am UK Bonn mit Ihrem Buch angestoßen.


Wibke Roth: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Pröbstl.

*Die Pfennigparade wurde 1952 gegründet und widmete sich zunächst der Bekämpfung der seit Kriegsende andauernden Polioepidemie.

**Sogenannte transformationale Führung bewirkt, dass Führungskräfte als Vorbilder wahrgenommen werden. Dadurch, dass sie u.a. Vertrauen und Wertschätzung schaffen, haben sie Einfluss auf die Flexibilität und das Engagement ihrer Mitarbeiter*innen.

***Bei dem Pflegemodell von Dorothea E. Orem handelt es sich um ein Modell, in dem die Eigenständigkeit der Pflege gefördert wird. Der zentrale Gedanke von Orem ist, dass die Menschen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden dadurch verbessern können, indem sie für sich selbst Sorge tragen.



Mai 2023